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2001


 


Von der Disziplin zur Gelassenheit


Thomas Bernhards Figur des Geistesmenschen

 

Der Geistesmensch ist das philosophische Konzept von Thomas Bernhard. In ihm fasst er die Bedingung der gegenwärtigen menschlichen Existenz und ihre Folgen zusammen. Das Konzept ist eine menschliche Figur: der Geistesmensch. Geistesmenschen sind Denker. Sie grübeln und reflektieren, handeln aber nicht mehr. Sie sind Maler oder Kritiker, Musiker oder Wissenschaftler, die sie sich von der Gesellschaft abgekehrt haben. Pessimistische und skeptische alte Männer, die in Distanz zur Gesellschaft leben. Kranke, die am Herzen, an der Lunge und unter Atemnot leiden oder fußschwach sind. Ihre körperlichen Gebrechen entsprechen ihren seelischen Qualen: Sie sind melancholisch, feindselig und verzweifelt und ihr Grübeln kreist um die Erlösung durch Selbstmord.

 

Der Geistesmensch ist Thomas Bernhards ästhetische Grundform. In ihr steht der Welt der Sinne die Welt des Geistes - wie Kunst und Philosophie - gegenüber, in der die Menschen ohne Beachtung der Besonderheiten der Person, der Kultur und der Begebenheiten betrachtet werden. Die Werke der Kunst sind die bildlichen und bildnerischen, die der Philosophie die begrifflichen Gestaltungen eines allgemein menschlichen Seins, frei von Traditionen, Moden und Ideologien. Sie gelten über die Epoche hinaus und werden Teil der Evolution der vom Menschen geschaffenen Formen. Bernhard lässt den Geistesmenschen schonungslos gegen das eigene Leben arbeiten und so tief in das eigene Ich hineingehen, dass sich dessen subjektive Befindlichkeit mit dem Allgemeinen des menschlichen Seins in einer einzigen Form und Erkenntnis verbindet. Diese Form ist Bernhards zeitlose ästhetische Grundform, in der sich die Kunst mit der Philosophie verbindet. Gegen die Zeitgebundenheit des Daseins und gegen das Sinnfällige hat er im Leben und in der Literatur unnachgiebig gestritten.

 

Der Geistesmensch ist ein vereinfachtes Modell des Menschen. Eine hohe Kunstform ohne fest umrissene Gestalt, ein Schema, offen für Variationen. Ein komprimiertes, reduziertes und einseitiges Wesen, das in seinen Reflexionen selbst reduziert und konzentriert, übertreibt und systematisiert. Im vereinfachten Menschen drängt alles zur Gegnerschaft: er misstraut der Tradition und hasst die Natur, er kämpft gegen die bestehende Kultur und findet den modernen Menschen widerwärtig. Sein Blick ist subversiv, ein Gegenblick, der die Schalen des Bestehenden aufbricht, bis er das Wesentliche erfasst. Alles Unwesentliche wird zersetzt, zermahlen, atomisiert. Alles wird zu seiner Beute, die er philosophisch umstellt, um zu prüfen, ob es vor dem Tod Bestand hat. Alles ist lächerlich, sagt Bernhard, wenn man an den Tod denkt. Übrig bleibt, dass die Welt Grausamkeit, Schmerz und Verzweiflung ist, auf die der Geistesmensch mit stupiden Gewohnheiten, mit Selbstmordgedanken oder mit dem Lächerlichmachen menschlichen Strebens reagiert. Seine Existenz ist durch die Nähe zu Krankheit, Hoffnungslosigkeit und Tod eine Gegenexistenz, die in ihrer Einseitigkeit das Wesen der Wirklichkeit offenbart.

 

Im Geistesmenschen zeigt Bernhard, wie Natur und Kultur am Menschen arbeiten. Wie die Natur ihn grausam, verbrecherisch und gemein macht und wie einerseits die Kultur die Natur verstärkt und andererseits der Geistesmensch mit den Kräften der Kultur - den geistigen Vermögen - dem Verhängnis entgegenarbeitet, um dem von der Natur auferlegten Schmerz zu entgehen. Er greift durch den Geistesmenschen tief ins Unterbewusste hinab und kann die menschliche Kommunikation in einer Unmittelbarkeit veranschaulichen und philosophisch über die Welt und die Zerrüttung der Menschheit reflektieren, wie es bis dahin nicht möglich war. Er arbeitet mit Übertreibungen und stereotypen, eindringlichen Wiederholungen, erfindet für seine Geistesmenschen Worte und Wortballungen und arbeitet sich von der Oberfläche ausgehend in die Strukturen des Seelischen, Geistigen und in die Ordnungen der Kommunikation hinein. Die Geistesmenschen in Bernhards Werk bilden eine geistige Gemeinschaft.

 

Der Geistesmensch ist selbstzerstörerisch. Und wie sich selbst, so hasst er den Menschen und sein am Materiellen orientiertes Dasein. Er scheitert an der Radikalität, mit der er auch unter dem Eindruck positiver Erlebnisse hartnäckig bei dem einmal angenommenen negativen Prinzip seiner Weltsicht bleibt. Um sich zu retten, entwirft er den Kosmos nach den Gesetzen des Schmerzes und der Melancholie und vermittelt in seinen Reflexionen über die Gründe des Scheiterns seine Erkenntnis. Er durchdringt das Wahrgenommene so lange, bis er es auf den existentiellen Grund zurückgeführt hat, nämlich den, dass die Welt eine Kloake ist. Da er danach strebt, sich keiner Macht und keinem Geschick zu beugen, hat er seine Innerlichkeit gegenüber allem Äußeren zur höchsten Kraft gesteigert, zur heilenden Kraft des Geistes und der Form. Die den Geistesmenschen erfassende Struktur besteht aus der Verflechtung von Disziplin, Objektiv, Denkbezirk, Beobachtung, Gewohnheit und Lächerlichkeit. Die Struktur führt den Geistesmenschen zur Gelassenheit, durch die er seinen Schmerz und seine Verzweiflung tragen kann.

 

 

Die Disziplin

 

Thomas Bernhard hat in seinen Werken Erkenntnisse formuliert, die den Wissenschaften oft nicht zugänglich sind. Das Subjektive der den Menschen bedrängenden Existenz wird im Erkenntnisvorgang nicht objektiviert und damit getilgt, sondern in ein kosmisches Sein integriert.

 

Ausgerechnet der Literat, der die kompliziertesten Satzgebilde entwickelt und in einer wissenschaftlichen Diktion schreibt, der seine Hauptfiguren darstellt, als hätten sie die großen Philosophen studiert, als würden sie sich in den Wissenschaften und den Sprachen der Welt zu Hause fühlen, und der sie in einer bestechenden Weise argumentieren lässt, hat sich der klassischen Bildung verschlossen. Denn Bernhard hat die Schule innerlich verweigert und den Großvater zu seinem Erzieher gemacht. Ausgerechnet er mag sich nicht das Wissen aneignen, das für eine solche Art zu schreiben als Voraussetzung angesehen wird. Zwischen der in seinen Werken formulierten Erkenntnis und der Eigenart seiner Erziehung besteht eine Beziehung: Frei von der Strenge abendländischer Bildung kann er in einfacher und origineller Art die großen Themen des menschlichen Daseins durchdenken und darstellen. Seine Überlegungen sind frei von der Angst vor den Erwartungen anderer. In seiner Literatur hat er die Befindlichkeit des Menschen öffentlich gemacht und das, worüber man in der Öffentlichkeit sprechen kann, um die Angst, das Gemeine und das Abstoßende im Menschen erweitert. Dafür hat er begeisternden Zuspruch erhalten und einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. In einem ursprünglichen Sinn ist Bernhards Literatur politisch.

 

Bernhards Protagonisten treiben Wissenschaft. Doch nur dem Gestus nach. Und gerade die Gestik der Intellektualität bestimmt die Struktur seiner Prosa. Die Romanhelden erwähnen Philosophen wie Schopenhauer, Kant oder Nietzsche, die inhaltlich aber leer bleiben. Sie reden apodiktisch und präzise und stellen ihre Wahrnehmungen, Beobachtungen und Deutungen wie Ergebnisse einer empirischen Forschung dar. Die Protagonisten sprechen im Nominalstil und bedienen sich einer endlos verschachtelten Syntax, einem wissenschaftlichen Stil vergleichbar. Sie gebrauchen Worte wie Wirklichkeitsverachtungsmagister oder Weinflaschenstöpselfabrikant, Komposita wie in den Naturwissenschaften: Dodekylhydrogensulfat in der Chemie oder Tractus paraventriculohypophysialis in der Medizin. Und wie in der Wissenschaft Beweise erbracht werden, wenn Sätze im Rahmen einer Theorie logisch auf nicht weiter zu reduzierende Gründe zurückgeführt werden, gründen sie ihre Argumente in einer Annahme: Bei Leibniz heißt es „Die bestehende Welt ist die beste aller möglichen Welten“, Schopenhauer setzt dagegen „Die bestehende Welt ist die schlechteste aller möglichen Welten“ und Wittgenstein behauptet, „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Bernhards Protagonisten kontern lakonisch: „Die Welt ist eine Kloake“.

 

Ebenso haben sie das Zitieren in der Wissenschaft zu einer besonderen Form entwickelt. Sie sprechen vermittelt über andere Personen. Dadurch entstehen Formeln wie „so Irrsigler“ oder „Koller sei“. In wissenschaftlichen Texten heißt es dann „sagt Freud“ oder „wie Russell gezeigt hat“. Zitieren ist eine Beweisform und bedeutet, sich abzusichern und zu entlasten, indem etwas auf eine authentische Quelle, eine Autorität oder ein als unbezweifelbar angesehener Satz zurückgeführt wird. Deshalb lassen sich Romanfiguren wie Roithamer, Konrad oder Murau als Texte deuten, aus denen zitiert wird. Auch für das Zitieren von Zitaten hat Bernhard eine literarische Formulierung gefunden: „so Karrer zu Oehler, sagte Oehler“ oder „lautet die Pascalsche Maxime, so er, dachte ich“. In der Wissenschaft heißt es knapp „zitiert nach Hegel“. Die Erzähler Bernhards führen Argumente über eine Formel „so Irrsigler“ auf einen dahinter liegenden Grund (Irrsigler), zurück oder über „so Karrer zu Oehler, sagte Oehler“ auf einen Grund (Karrer) hinter dem Grund (Oehler). Hinter der Zitierformel verbirgt sich Bernhards Kunst der Distanzierung. Die Erzähler, die den Text sprechen und die zitieren, haben die Rolle von Wissenschaftlern inne, die unbeteiligt und scheinbar objektiv berichten.

 

Das Durchsetzen des Textes mit Formeln (Zitieren) und den Komposita (Termini), das wiederholte Erwähnen bekannter Philosophen (Kompetenz) sowie die verschachtelte Syntax (Differenziertheit), das wiederkehrende Beobachten (empirisches Forschen) und der nominalistische Schreibstil (Zustandsbeschreibung) bilden das Gerüst und das Beziehungsgeflecht nahezu aller Romane Bernhards. Sie sind die Bestandteile, die den Text wiedererkennbar machen. Die Ordnung von Wiederholungen und stereotypen Wendungen, die dem Raster einer wissenschaftlichen Abhandlung entspricht, ist Bernhards literarische Grundform, die seine Romane zu einer Literatur im Gewand der Wissenschaft machen. Dieses Gewand ist seine Form. Das Wissen, das sich in ihr manifestiert, wird durch die Reflexionen der grübelnden, nörgelnden und philosophierenden Künstler und Wissenschaftler bestätigt. Sie bedeutet das Abstrakte und Immergleiche der menschlichen Kommunikation.

 

Auf langen Spaziergängen hat der Großvater, Johannes Freumbichler seinen Enkel Thomas diszipliniert und an ein abstraktes Denken herangeführt. Wenn er ihm etwas erklärt hat, hat er ihn anschließend mit den Erklärungen allein gelassen, sprechen war auf den Spaziergängen kaum geduldet. So ist schon früh das Festhalten von Eindrücken und Gedanken lebensnotwendig. Ein wahrhaftes Wissen, stamme, dem Großvater zufolge, immer nur aus ihm selbst. Der philosophisch interessierte Mensch müsse das Wissen in sich suchen, finden und prüfen. Er habe ihm nahegelegt, das Leben denkend zu bewältigen und anders als in der Wissenschaft, die ihr Ideal in der Objektivität des Wissens sieht, sehe er das Ideal in der radikalen Subjektivität. Der Großvater hat seinen Enkel früh zum Schreiben und zur Kritik gegenüber Traditionen, Massenmenschen und jeder Art von Inkonsequenz angehalten. In der Kunstform von Bernhard gibt es keine Ablenkung durch den Blick auf Vorbilder und andere Quellen, und das Wissen, das der Mensch aus sich schöpft, ist authentisch. Bernhard fordert, wie sich selbst, seinen Protagonisten ein hohes Maß an Selbstdisziplin ab.

 

Wissenschaften entwickeln sich im Rahmen vorgegebener Termini und Methoden. Ihre Aussagen sollen prüfbar sein und Grade der Gewissheit unterscheiden können. Ihrem Verständnis nach kommen einer gesicherten Erkenntnis die Attribute methodisch, objektiv, logisch und rational zu. Wissenschaftler lernen in ihrer Forschung von ihren Interessen und Gefühlen zu abstrahieren, bis sie davon ausgehen, dass die Welt, die sie sich distanziert gegenüberstellen, mit der Vernunft erfasst und erschlossen werden kann. Doch da ein als gesichert angesehenes Wissen durch Differenzierung und den historischen Wandel immer wieder in Frage steht, erweist sich ein abgesichertes Wissen nur vorübergehend als sicher und damit als Teil der Konvention. Das streng geordnete Denken soll Regelmäßigkeit, Sicherheit und Effizienz in die Welt bringen und Zukunft planbar machen.

 

Thomas Bernhard beschreitet einen entgegengesetzten Weg. Er misstraut dem politischen, historischen und naturwissenschaftlichen Wissen wie dem gesunden Menschenverstand. Sein Denken ist kreisförmig, universell, paradox und subjektiv, die Basis seines Denkens geistige Klarheit. Anders als Wissenschaft kann Literatur unterhaltsam, interessant, wahr, ästhetisch oder derb sein: In ihrer Form ist sie frei. Unnachgiebig und kritisch analysiert er als Anatom der menschlichen Existenz die Kommunikationsstrukturen der modernen Gesellschaft des Alltags und der Wissenschaft. Allem geht er auf den Grund und führt Argumente und Schlüsse unerbittlich bis an ihr logisches Ende. Was seine Protagonisten aus sich gewinnen, sind keine naturwissenschaftlichen Kenntnisse und keine allgemeinen Erörterungen, es sind Weisheiten über den Menschen in seiner unmittelbaren Existenz.

 

Thomas Bernhard ist radikal und subjektiv. Er stört, er provoziert, er ist dagegen. Seine Erkenntnis gründet weder auf einem allgemein anerkannten Beweisverfahren noch in vorausgesetztem Wissen. Er richtet sich gegen die Normen und Ideale einer oberflächlichen Gemeinschaft und ihrer Repräsentanten, gegen anmaßende Individuen und gegen die abgestumpfte Masse und verbindet seine Kritik mit der Sympathie für Außenseiter, Ausgestoßene und Kranke. Kranke konzentrieren sich durch ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Nähe zum Tod auf das Wesentliche. Schon Novalis, dem sich Bernhard verbunden fühlt, gilt der Kranke als der Hell- und Weitsichtige. Für Cioran ist Gesundheit ein Zustand des Nichtempfindens und Nichtwirklichen.

 

Bernhards Literatur hat den Nerv der gewaltigen und abstrakten Geistigkeit und der gebrochenen Körperlichkeit moderner Menschen und deren Folgen genau getroffen: die gestörten Sozialkontakte, die gehemmten und leerlaufenden Gefühle, die Stupidität und die Zerstörungswut. Mit den Mitteln der Literatur hat er die Emotionen und subjektiven Färbungen der Wahrnehmung untersucht, die der westlichen Kultur als Weg der Erkenntnis hinderlich erscheinen. Seine Beobachtungsgabe und sein scharfer Verstand, sein kreatives Handhaben der Sprache, seine große Anschaulichkeit sowie die prägnante, fassbare und ureigene Darstellungsform geben das Beobachtete im festen Raster seiner Romane adäquat wieder. In der literarischen Verarbeitung der Alltagskommunikation und der literarischen Form des Geistesmenschen hat Bernhard die Psyche des modernen Menschen, die verzweifelte Seele und ihren Versuch, sich in die Oberflächlichkeit zu retten, freigelegt.


Der Schmerz

 

Thomas Bernhard hat in seinen Romanen den Schmerz und seine Erscheinungsformen Furcht, Krankheit, Depression und Verzweiflung als grundlegende Form des Daseins und der Erkenntnis beschrieben. Das Wesen der Natur ist Grausamkeit, was sie hervorbringt, Schmerz. In einem langen Prozess der Beruhigung und Zivilisierung hat der Mensch versucht, diese Schmerz bereitende Seite der Natur zu überwinden. Doch der Versuch, die Natur zu bändigen, ist Bernhard zufolge gescheitert. Die Grausamkeit hat lediglich ihre Gestalt gewandelt und die Möglichkeiten des Schmerzzufügens erhöht. Jagen und Gejagtwerden als unablässiger Lebenskampf ist das grundlegende Erhaltungsprinzip geblieben.

 

Bernhard nimmt einen Beobachtungsort und einen Reflexionsraum jenseits der Kultur ein. Er ist der kritische Kommentator des Weltzustandes, der jenseits der Welt sehend ruhelos hin und her geht. Von der Warte aus gelingt es ihm, den Gründen der gegenwärtigen Ratlosigkeit, des Ressentiments, der weltweiten Lähmung und der Destruktion einen philosophischen Rahmen zu geben. Bernhard ist die Welt ein Ort des Schmerzes. „Auch das Universum“, lässt er den Maler Strauch in Frost sagen, „ist viel zu eng, unter Umständen“[i], unerträglich und immer nur zum Tode hinführend. Kein Wohnen, nur Aufenthalt. Kein Friede, nur Krieg. Kein Sinn, nur dumpfes und stumpfsinniges Vegetieren. Daher die Grausamkeit des Daseins. Kein Trost von außerhalb. Klima, Landschaft, Fauna. Alles Schmerz, Angst und Verzweiflung. Von düsteren und beklemmenden Tälern ist die Rede, von schlechter Luft und von Weltgestank, von der Enge des Halses und der Aurachengstelle. Immer wird bei Bernhard das Leben durch Engpässe gepresst, damit es vorankommt. Solche Engstellen sind die Rachen der Welt, die das Leben verschlingen.

 

Was das Leben schmerzvoll und grausam macht, ist der Zwang zur unablässigen Selbstbehauptung. Lebewesen sind daraufhin geordnet, sich in einer festgelegten Richtung zu verschlingen. Potentiell ist der Feind immer gegenwärtig. Um die Natur zu untersuchen, reißt Bernhard ihre Fassaden ein und legt ihr Wesen frei. Er folgert, dass die Natur vernunftbegabt und beseelt, vor allem aber grausam ist. In Frost ist von einer Gegend die Rede, die einem fortwährend ins Gesicht schlägt und von Landstrichen, durch die „auf die Dauer Menschen verrückt werden.“[ii] Wie der Mensch wird auch die Landschaft bedrängt. Sie unterliegt der mächtigen Gewalt des Klimas, das „ganzen Gebirgsmassiven ins Gesicht schlägt.“[iii] Aber die Menschen, die vom Klima und von der Landschaft niedergedrückt werden, greifen nicht nur zerstörerisch in die Landschaft und das Klima ein, das Grausame der Natur setzt sich in den Institutionen der Gesellschaft fort. Die kulturellen Einrichtungen einer Gesellschaft verankern das Grausame der Natur in der Kultur. Durch sie hat sich das gegenseitige Verschlingen und Schmerzbereiten kultiviert und zu neuen Formen der Macht gewandelt: Soziale Verhältnisse sind Gewaltverhältnisse.

 

Thomas Bernhard ist der Philosoph des Schmerzes, der dem Leiden in all seinen Formen unerbittlich nachstellt und das Verhalten des Menschen schonungslos auf die Grausamkeit der Natur zurückführt. Der Mensch kommt bereits als Schmerzenswesen auf die Welt. Er kommt nicht freiwillig. Jedes Gebären ist Bernhard ein „Kinderherausziehen in die Welt“[iv]. Ein Abschneiden von der Herkunft. Darin hat der Schmerz seine Grundlage. Bernhards Geburtsort selbst ist ein Ort des Schmerzes, ein Fluchtort der Mutter. Außerhalb Österreichs als uneheliches Kind geboren, hat er den Vater, der sich das Leben nahm, nicht kennengelernt. Die Mutter, die in Holland ein Jahr arbeitet, sieht ihren Sohn in dieser Zeit kaum. Er wächst danach einige Jahre bei den Großeltern in Österreich auf und wohnt erst seit dem siebten Lebensjahr mit ihr, dem Stiefvater und den Halbgeschwistern zusammen. Mit sechzehn bricht er das Gymnasium ab und beginnt eine Kaufmannslehre, die er aussetzt, nachdem er an einer Lungentuberkulose erkrankt ist. Geburt und Erziehung, gesellschaftliche Institutionen und das Leben in der Gesellschaft tragen den Schmerz in den einzelnen Menschen hinein, der ihn durch eigene Nachkommen und das Wirken in der Gesellschaft an die Zukunft weitergibt.

 

Das Element, das alle Teile des Universums miteinander verbindet, ist der Schmerz. „Kein Gegenstand, nichts sei stumm. Alles drücke fortwährend seinen Schmerz aus“[v], heißt es in Frost. Für Bernhard ist die Welt eine dynamische Einheit des Naturganzen und der Mensch Teil des Ganzen, nicht sein Zentrum. Darin steht er Kepler, Leibniz und Alexander von Humboldt nahe. Indem er die Welt radikal und einseitig unter dem Aspekt des Schmerzes fasst, trifft er etwas Wesentliches unserer Existenz: Jenseits der Gewohnheit ist das menschliche Dasein ohne Sinn, reich an Schmerz, trostlos und absurd. Wie Menschen haben Steine, Pflanzen und Tiere die Qualität des Empfindens und des Ausdrucks. Grenzen gibt es zwischen ihnen ebensowenig wie zwischen Gegenständen und Gedanken, Gedanken und Gefühlen oder der belebten und unbelebten Natur. Schmerz ist eine Substanz des Seins, die alles miteinander vergleichbar macht.

 

Thomas Bernhard blickt mit den Augen des Ausgeschlossenen, des Kranken und des Verrückten auf die Welt. Von seinem mit Atemnot verbundenen Kranksein, das ihn zeitlebens begleitet hat, hat er gesprochen. Jemand, dem der Körper immer anwesend ist, fühlt mehr als alle anderen die atemverzehrende Gegenwart. Er gibt dem Schmerz aber eine Richtungsänderung, eine Wende vom Leib in den Geist. Bernhards Denken kreist um den Geist und den Körper, die er über den Schmerz öffnet und begehbar macht. Er schafft Denkraum. Vom Schlagen eines Gedankengangs an die Schädelinnenwand ist die Rede, vom „Untergehörgebälk“, davon, dass jemand „völlig wehrlos in die Gedanken“ hineingeht oder davon, „wie man einen Menschen in seinem Gedächtnis aussetzt“. Geist und Körper sind Schmerzgebäude, und Schmerz ist ein Produkt der Erkenntnis. Das Besondere bei Bernhard ist, dass er sich vom Körper abwendet und sich dem Geist zuwendet, um sich im Geist dem Körper zuzuwenden. Er hat sich den eigenen Körper bewusst gemacht, um den Schmerz in all seinen Arten und Intensitäten wahrnehmen zu können: den seelischen und den körperlichen, den geistigen, den politischen und den ästhetischen Schmerz. Er hat den Schmerz verkörpert und ihn dadurch anschaulich und aufschreibbar gemacht.

 

Die Geistesmenschen der frühen Romane sind dem Schmerz ausgeliefert. Hasserfüllt gegen Natur und Mensch, gegen Kultur und sich selbst leben sie nur noch auf den Tod hin. Im Spätwerk entwickelt Bernhard Elemente der Lebensbewältigung. Im Witz etwa in Bezug auf die Fotografie in Auslöschung: Wir beschimpfen Köpfe, „die nur einen einzigen Zentimeter Durchmesser haben“[vi]; in der Komik: der Hund Schopenhauers wird in Beton zum Urheber des Werkes des Philosophen; in der Hingabe Regers an die Kunst in Alte Meister: „In der Kunst habe ich mich immer geborgen gefühlt“[vii]. Ist Schmerz auch das Wesen des Daseins, die Protagonisten können mit ihm leben.


Das Objektiv

 

Um den Schmerz zu bewältigen, hat Bernhard eine einfache Theorie der Kultur-, Natur- und Gesellschaftsbetrachtung entwickelt, die er Objektiv[viii] nennt. So jedenfalls lässt sich eine Passage in der autobiographischen Arbeit Die Kälte deuten. Er legt dar, unter welcher Perspektive er auf die Welt sieht. Jeder Untersuchung über gesellschaftliche Ereignisse, über die Natur und über die subjektive Befindlichkeit des einzelnen liegen die Sätze des Objektivs zugrunde. Die Anschauung der Welt unter der Prämisse von Leitsätzen gibt dem Wissen einen theoretischen Rahmen. Das Bernhardsche Objektiv ist ein Filter, durch den hindurch er auf die Welt blickt und, umgekehrt, durch den die Daten der Welt über die Sinne in den Menschen gelangen und verarbeitet werden. Es ist ein Sinnes- und Wahrnehmungsfilter, der die subjektiven Daten zu einem Weltbild objektiviert.

 

Die Sätze des Objektivs, ein Vorschlag des Großvaters, die Welt unter diesem Blickwinkel zu betrachten, hat Bernhard wiederholten Prüfungen unterzogen, bevor er sie als Erzeuger objektiver Gewissheit angenommen hat. Neben dem Gewinn unbezweifelbaren Wissens dient das aus sieben Thesen bestehende Objektiv der Bewältigung des Daseins. Es führt zu Sicht- und Handlungsweisen, die das Disparate des Lebens ordnen und in einer theoretischen Form zusammenschließen. Das Objektiv ist ein das Leben ordnende Instrument der Theorie, ein Mittel zur Herstellung von Sicherheit und innerer Ruhe.

 

Die ersten vier Leitsätze des Objektivs sind Wertschätzungen: Die Welt ist eine Kloake. Die Natur ist grausam. Der Mensch ist verzweifelt. Der Mensch ist gemein. Die nachfolgenden zwei Sätze sind Regeln der Argumentation: „Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist, jeder Irrtum ist nichts als die Wahrheit“ und „Die Absurdität ist der einzig mögliche Weg.“ Der siebente Satz ist ein Satz zur Methode: „Wir gehen in das Geschäft des Lebens und kaufen ein, und die Rechnung müssen wir bezahlen.“ Den Leitsätzen liegt die Hauptaussage „X ist grausam und widerwärtig“ zugrunde, wobei „X“ für die Welt und den Menschen und sein Verhalten steht. Dem Geistesmenschen zufolge kann sich nur derjenige hinlänglich im Universum einrichten, der durch sein Objektiv die Welt erfasst, da nur dann Aussagen über die Gegenwart und die Zukunft sicher sind. Enttäuschungen werden kalkulierbar und der Mensch bleibt gezwungen, aufmerksam und kritisch jedem Sinnesdatum zu begegnen.

 

Das Weltbild, das daraus folgt, ist der Maßanzug, in den Bernhard seine literarischen Hauptfiguren steckt. Der Geistesmensch beobachtet durch das Objektiv hindurch sich selbst, andere und die Welt. Die Lebensmaximen, nach denen er lebt, die Lebensnot, in die er gerät, und die paradoxen Wege seiner Argumentation überschneiden sich mit den Vorstellungen, die Bernhard in seiner Minimaltheorie formuliert: Das Objektiv ist der radikal subjektive Versuch, der objektiven Dauerkrise des Daseins - dem Leiden - zu entgehen.

 

Die Theorie verwendet Bernhard in seinen Romanen als eine Art Kalkül. In mathematischen und logischen Systemen ist das, was sich mit Sätzen und Regeln innerhalb des Kalküls vollzieht, berechenbar. Allerdings funktioniert Bernhards Kalkül nur unter Beachtung des Inhalts von Aussagen wie „Die Welt ist eine Kloake“. Formal betrachtet ist er durch den Widerspruch „Die Wahrheit ist immer ein Irrtum“ sinnlos. In formalen Systemen, die einen Widerspruch enthalten oder zu erzeugen erlauben, ist jede beliebige Aussage herstellbar, der Kalkül widersprüchlich und für die Argumentation unbrauchbar. Bernhard verwendet den Kalkül in dreierlei Hinsicht. In den sich widersprechenden Aussagen hält er das Rätselhafte in der Schwebe und kann über das Absurde und Gegensätzliche auf dem Grund des Seins Gewissheiten fassen. Zweitens beziehen die Protagonisten in ihrer Argumentation das Verhältnis von Irrtum und Wahrheit vor allem auf explizite Behauptungssätze. Bernhard zufolge kann auf das Wahre nur angespielt werden, direkt ist es nicht aussagbar. Die Aufgabe, das Wahre indirekt zu formulieren, auf es anzuspielen oder es zu zitieren, kommt Bernhards Ich-Erzählern zu. Drittens verwenden sie den Widerspruch im Kalkül - „Die Wahrheit ist immer Irrtum“ - um den Gedankengang des Geistesmenschen zu entwickeln: Ein Gedanke wird durch eine gegenteilige Aussage in Frage gestellt und in späteren Erörterungen wieder bejaht und weiterentwickelt. Widersprüche dienen der Produktion von Paradoxa, den scheinbar widersinnigen Aussagen, in denen sich erneut Bernhards Strategie des Gegen-alles-Seins zeigt. Para-Doxa heißt Gegen-Meinung und ist die Meinung, die der allgemeinen Ansicht entgegensteht. Bernhard setzt sie als Geste der Wissenschaft ein. Wie Sokrates und Platon nutzt er das Paradox und das Absurde als meditativen Punkt der Einkehr, der Einsicht und der Umkehr.

 

Freude und Zuverlässigkeit, Hoffnung und Gefühle des Glücks existieren in den frühen Romanen nur als Schein. Als Scheinglück, als Scheinfreude, als Scheinhoffnung. Jedes Lachen ist dem Objektiv zufolge eine Lüge, ein Zynismus oder steht im Verdacht, nicht Ausdruck eines dazugehörigen Gefühls zu sein. Die Welt, angeschaut unter dem Prinzip des Objektivs, ist eine immer gleiche Welt, die ein einseitiges, ein unkorrigierbares und unbewegliches Weltbild hervorruft, wie die Protagonisten unter allen Umständen daran festhalten, dass die Welt widerwärtig ist. Aber in der Einseitigkeit besitzt das Objektiv klare und präzise Konturen. Das Objektiv macht den Schmerz im Paradox handhabbar und hilft, das leidvolle Leben zu bewältigen.

 

­Der Denkbezirk

 

Der Denkbezirk ist ein symbolischer Raum. In ihm vollzieht der Geistesmensch eine sein Leben entscheidende Wende. Er ist ein Krisenraum wie ein Krankenhaus, eine Strafanstalt oder ein geschützter, der Gesellschaft schwer zugänglicher Wohnraum, in dem sich der Geistesmensch durch Rückzug rettet. Denkbezirke sind Räume, in denen sich der Geistesmensch geistig abschließt. Räume der Einsamkeit, der Stille, der Leere. Therapeutische Räume, in denen sich Assoziationen entfalten, die das Leben ordnen, es neu orientieren und den Schmerz, den die Bindung an die materielle Existenz bereitet, lindern. Da sie Orte der Reflexion und der Spiritualität sind, kann jeder Ort Denkbezirk werden. Architektonisch sind sie leer und konturlos.

 

Der Denkbezirk ist eine geistreiche Erfindung von Bernhards Großvater oder eine großartig modifizierte Erinnerung Bernhards an dessen Worte. Als der Siebzehnjährige schwer erkrankt ins Krankenhaus eingeliefert wird, gibt ihm der Großvater für die Erkrankung und den späteren Aufenthalt im Sanatorium eine für das Leben nützliche Deutung. Er nennt den Aufenthalt im Krankenhaus Lebenschance, und in einem Denkbezirk, sagt er, erreichen wir, „was wir außerhalb niemals erreichen können, das Selbstbewusstsein und das Bewusstsein alles dessen, das ist.“[ix] Wahrscheinlich sei er krank geworden und habe das Krankenhaus aufsuchen müssen, weil er nicht in der Lage gewesen sei, von sich aus „auf das lebenswichtige und existenzentscheidende Denken zu kommen.“[x] Ob es sich bei einer Krankheit um eine erfundene oder um eine tatsächliche Krankheit handle, spiele keine Rolle, wichtig sei, dass sie dieselbe Wirkung hervorrufe wie eine tatsächliche. Überhaupt seien Krankheiten Erfindungen. Von da an hat Bernhard Grafenhof als einen Ort der Umkehr und der Erkenntnis aufgefasst, in dem er eine Wandlung vollzogen und sich selbst „auf die natürlichste Weise vom wehrlosen Opfer zum Beobachter dieses Opfers und gleichzeitig zum Beobachter aller anderen gemacht“[xi] hat.

 

An Orten, die dem Rückzug dienen, versuchen Bernhards Protagonisten sich mit geistiger Anstrengung und Konzentration eine Identität zu geben oder das Brüchigwerden der eigenen Identität aufzuhalten. Meist handelt es sich um ungewöhnliche Gebäudekomplexe. Neben Schlössern, Dachkammern, Museen, Gefängnissen, Mühlen oder Türmen kommen ein Kalkwerk, ein Wohnkegel und eine Baracke vor. Bernhards Helden suchen diese Orte auf, um Pläne zu verwirklichen, Ruhe zu finden und um eine begonnene Arbeit fertigzustellen. Wie der Industrielle im Roman Verstörung, der nur noch durch die Post mit der Außenwelt verbunden ist. Die Fenster seines Hauses sind verdunkelt. Im Arbeitszimmer duldet er nur Tisch, Stuhl und leeres Papier. Er will, vollkommen angewiesen auf sich selbst, niemals von seiner Arbeit abgelenkt sein. Denkbezirke sind ausschließlich Orte zur Bewältigung der Existenz durch die Kraft des Wollens und der Vorstellungskraft. In der strikten Ausweisung als symbolischer Raum, unabhängig von der Funktion und der Architektur, in der sich die Lebenswende ereignen soll, erweisen sie sich als zeitlos. Denkbezirke sind potentielle Räume, die jeden beliebigen Ort zu einer auserwählten Stätte machen, zu einer Stätte der Spiritualität, Künstlichkeit und Meditation.


Die Beobachtung

 

Thomas Bernhard betrachtet die Welt, indem er die Vielfalt der Erscheinungen unter wenige Perspektiven ordnet. Seine Beobachtungen sind präzise und kompromisslos. Der radikale Blick misstraut dem Vertrauten, dem Überlieferten und Vorurteilen. Der präzise und schonungslose Blick ist ein Blick gegen die herkömmliche Art zu sehen, gegen den positiven und aktivistischen, den statistischen und optimistischen Blick. Der Geistesmensch nimmt „Autopsien an dem Körper der Natur sowie an dem Körper der Welt und ihrer Geschichte vor“[xii], heißt es in Verstörung. Die Welt wird so lange differenzierend beobachtet, bis das Beobachtete in seine Bestandteile zerfällt und in einem Raster erfasst und abgebildet werden kann.

 

In der Beobachtung fügt sich der Geistesmensch mit dem Denkbezirk und dem Objektiv zu einer einzigen Form, zum bios theoretikos, zum Leben, das sich dem denkenden Betrachten der Dinge widmet. Das Objektiv ist darin eine Theorie, der Denkbezirk ein Theaterplatz und der beobachtende Geistesmensch ein Theoretiker. Schau heißt griechisch thea. Beobachten ist das gliedernde und verstehende Zuschauen, das Anschauen einer Schau und das Verstehen im Sehen.

 

Das Beobachten vollzieht sich ungestört. Der Ort des Beobachtens liegt im Zentrum des Geschehens, meist des Unglücks. Dadurch entsteht eine Nähe in der Distanz. Zunächst wird ein geeigneter Be­obachtungspunkt gewählt. „Ich hatte mich an die Tormauer gedrückt, um einen noch idealeren Beobachtungspunkt zu haben“[xiii], sagt Murau in Auslöschung. Das Beobachten und Wahrnehmen, das Vergleichen, Klassifizieren und Benennen ist die Hinwendung zu einem imaginären Ort, dem Denkbezirk. Anders als in der Beobachtung eines Objekts kann in der Menschenbeobachtung der Beobachtete zum Beobachter des Beobachters werden und den Beobachter auf sich selbst zurückwerfen. Doch diesen Rückbezug vermeiden Bernhards Protagonisten, indem sie den Übergang von der Beobachtung zur Selbstbeobachtung selbst bestimmen. Die Beobachtung ist abgeschlossen, wenn die Ereignisse in sachlich-rationale Komponenten aufgelöst sind und das Objektiv das zusammenhanglos Gewordene im beobachtenden Geistesmenschen theoretisch geordnet hat.

 

Orte der Beobachtung sind Winkel, Fenster, Mauervorsprünge, das Innere des Menschen, das Außerhalb der Erde. Alles Seiende unterliegt der Beobachtung: Steine, Pflanzen, Lebewesen, kulturelle Ereignisse. Beobachtet werden Außenhäute und Effekte. Außenflächen werden lange und detailliert beobachtet, bis darunter liegende Strukturen erkennbar werden. Bernhard verfügt über die Fähigkeit, in der Beobachtung Vorgänge so extrem zu komprimieren, dass aus ihnen die Zeit herausfällt. Er löst dabei die Formen des Betrachteten so weit auf, dass er in ihnen etwas Wesentliches entdecken kann. Deshalb ist das Beobachten ein radikales Instrument: Alles ist „eine Frage der Beobachtungskunst und in der Beobachtungskunst eine Frage der Rücksichtslosigkeit der Beobachtungskunst und in der Rücksichtslosigkeit der Beobachtungskunst eine Frage der absoluten Geisteskonstitution“[xiv], heißt es in der Erzählung Am Ortler.

 

In Holzfällen fügt Bernhard die Elemente Beobachtung, Denkbezirk und Objektiv am kompaktesten zusammen. Der Erzähler sitzt in einem Ohrensessel inmitten einer Abendgesellschaft, die er beobachtet. „Nicht umsonst“, sagt er, „hatte ich mir schon in den fünfziger Jahren diesen Ohrensessel, der noch immer auf demselben Platz stand, ausgesucht, denn in diesem Ohrensessel, den die Auersbergerischen inzwischen überziehen haben lassen, sehe ich alles, höre ich alles, entgeht mir nichts.“[xv] Die stereotype Formel in der ersten Hälfte des Romans lautet „dachte ich im Ohrensessel.“ Der Erzähler beobachtet und gibt seinen Bericht aus der Mitte der Gesellschaft, ohne als ihr Analytiker wahrgenommen zu werden.

 

Vom Ohrensessel aus analysiert er akribisch die Gesellschaft. Er spürt aufmerksam den kleinen, belanglosen und kaum wahrnehmbaren Umgangsformen der Menschen nach. Nichts ist klein und banal genug, um ihm entgehen zu können. Jede Lüge wird aufgedeckt und das Peinliche - das im wörtlichen Sinn Schmerzhafte - ans Licht gezerrt. In der Öffentlichkeit ziviler Kulturen stellt der Mensch Absichten, Gefühle und Wünsche zurück. Er verstellt sich und gibt sich anders, als er fühlt, wenn er sich in einem guten Bild präsentieren möchte. Die scheinbar belanglose Differenz zwischen Sein und Vorspielen ist es, die Bernhard in der Beobachtung sichtbar macht. Der Geistesmensch zeichnet aus den Umgangsformen der Menschen Miniaturen des Verhaltens. Er sammelt sie und ordnet sie zu großflächigen Bildern, die ihre Bewertung durch das Objektiv erfahren. Die Differenz zwischen Absicht und Verhalten, zwischen dem Gefühl und der kleinen Lüge und der die Lüge verdeckenden Geste führt zur Frage nach der Identität. In der Erkenntnis der Differenz erreicht das Lamento des Erzählers über die Lügen und Gemeinheiten der Abendgesellschaft in Holzfällen seinen Höhepunkt, der sich zugleich zu einem Umschlagpunkt vom Beobachten anderer zur Selbstbeobachtung verdichtet. In dem Augenblick, in dem der Unausstehlichste der Abendgesellschaft, ein berühmter Burgschauspieler, dem Erzähler für einen Moment sympathisch und zum Augenblicksphilosophen wird, er sich mit ihm identifiziert, bricht der Sturm gegen die eigene Person los. Die Präzision und die Unbestechlichkeit seines Beobachtens haben ihn zur Identifizierung mit dem anderen gezwungen und das Beobachten - unverhofft und selbstbestimmt zugleich - in ein Selbstbeobachten verwandelt. Der Erzähler gerät in den Sog der eigenen Anklagen gegen die anderen und kann sich von diesen nicht mehr distanzieren und muss erkennen, dass auch er immer nur etwas vorgetäuscht und niemals ein tatsächliches, wirkliches Leben gelebt hat. Über den Geistesmenschen, der andere beobachtet, über sie berichtet und sie bewertet, entwickelt Thomas Bernhard „den ästhetischen Raum für eine neue Form der gedanklichen Selbst-Auseinandersetzung.“[xvi]

 

Das Beobachten des Geistesmenschen in Bernhards Romanen ist der methodische Aspekt eines Erkenntnisvorgangs, in dem das Disparate der Erscheinungswelt so klar herausgearbeitet wird, dass sich die Erkenntnis zu einer einzigen Form verdichtet, die einseitig, radikal, theoretisch und realistisch ist. Der Erzähler differenziert das Beobachtete detailliert genug, um die unterschiedlichen Charaktere darzustellen, und dringt tief genug ins Wesen hinab, um den alles umschließenden Grund des Seins, den Schmerz, zu erreichen. Die Erkenntnis, dass sich hinter dem Verhalten der Menschen immer Schmerz und Verzweiflung verbergen, bietet die Möglichkeit, dass sich der einzelne mit dem anderen, dem Fremden, identifiziert und die Differenz relativiert.

 

Gewohnheit und Lächerlichkeit

 

Gewohnheit gehört zur zweiten Natur des Menschen. Die Grenzen und Hemmungen, die eine Kultur festlegt, entlasten ihn, ordnen sein Leben und geben ihm Sicherheit und Stabilität. Zu einer Kultur gehört ein fester Bestand an Gewohnheiten des Denkens und Fühlens, der in gewohnten Formen des Verhaltens zum Ausdruck kommt. Das Leben für sich genommen ist sinnlos. Erst in einer Ordnung von Gewohnheiten, in der sich das Leben des einzelnen vollzieht, erhält es Sinn, der sich in der Sicherung und Entwicklung der bestehenden Ordnung äußert: im Brauchtum, in der Sitte und in der Tradition. Dagegen sind die Gewohnheiten des Geistesmenschen Verhaltensformen einer Gegenkultur. Sie sind banal und kauzig, seltsam und neurotisch.

 

Im Roman Alte Meister bilden die Gewohnheiten des Geistesmenschen Reger eine eigene, aber doch verbreitbare Kultur im Kleinen. Der Roman zeichnet ein Bild der Absurditäten und Besonderheiten seiner Minimalkultur. Seit dreißig Jahren sitzt der Kunstkritiker Reger jeden zweiten Tag im Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums Wien auf einer Sitzbank, um den Weißbärtigen Mann von Tintoretto zu betrachten. Um die Bank herum vollziehen sich die spärlichen Ereignisse, in denen sich Reger gegen die permanente Bedrohung und Infragestellung durch das Leben verteidigt. Die Bank im Kunsthistorischen Museum ist der Ort, an dem sich über Jahrzehnte sein Leben in immergleichen rituellen Abläufen abspielt. „Ich denke ja schon im Aufwachen zu Hause, dass ich mich möglichst bald auf die Bordone-Saal-Sitzbank setzen werde, um nicht verzweifeln zu müssen“[xvii], sagt er. Ab halb elf verbringt er den Tag im Kunsthistorischen Museum, ab halb drei im Hotel Ambassador, das ihm einen festen Sitzplatz reserviert. Auch Regers Begleiter, die Aufsichtsperson Irrsigler und der Ich-Erzähler Atzbacher, ein Schriftsteller, gehen nur wenigen Gewohnheiten, die von denen Regers abhängig sind, nach. Reger versorgt Atzbacher, der ihn seinen Gedankenvater nennt, mit den Ideen seiner Gegenkultur, und Irrsigler, den er sein Sprachrohr nennt, hält jeden zweiten Tag die Bank im Bordone-Saal frei und gibt das Wissen Regers an Besucher und Verwandte weiter. Sie tragen das Repertoire an Verhaltensweisen und Wissen von Regers Kultur in die Zukunft und bewahren damit Tradition.

 

Über die Gewohnheiten der Hauptfigur Reger definiert Bernhard, was Kultur ist, wie sie bewahrt wird und in anderen weiterlebt. In Alte Meister hat er Reger, Irssigler und Atzbacher zu einer Gesellschaft im Kleinen geformt, ein überschaubares Modell einer Kultur geschaffen und gegen die Banalität der modernen Hochkultur die völlig unsinnigen und noch banaleren Gewohnheiten Regers gestellt. Doch die Kulturträger durchschauen die Relativität der Kultur und ihrer Werte nicht, sondern bewundern sie. Reger ist nicht der Stifter einer großen Kultur wie Jesus Christus oder Buddha, aber er gibt Irrsigler und Atzbacher und dem Leser ein Wissen vom Zusammenspiel von Ordnung und Kultur, Gewohnheit und Lebenssinn.

 

Die Angst vor den eigenen Werten der Kultur heißt Bewunderung. Sie bedeutet das fraglose Bejahen tradierter Werte. Der einzelne wächst in die Kultur hinein, macht sich ihre Werte zu eigen und wird zu ihrem Befürworter und Bewunderer. Er hält die Art seines Denkens, Fühlens und Wertens für allgemeingültig, ohne zu erkennen, dass die Art zufällig erworben ist und sich nur als ebenso einleuchtend erweist, wie die Art, wie in anderen Kulturen gedacht, gefühlt und gewertet wird. Wer nie eine kritische Distanz zu sich und der Gemeinschaft gewinnt, in der er lebt, wird sein Leben immer von Vorurteilen geprägt einrichten. In der naiven und gutgläubigen Lebensart wurzelt alle Bewunderung. Radikal formuliert Reger, dass Bewunderung blind und stumpfsinnig macht und die Eigenschaft von Dummköpfen ist. Der eigentliche Verstand kenne die Bewunderung nicht. Bewunderung sei ein Zustand der Geistesschwäche, an der fast alle Menschen erkrankt seien. In einer solchen Verfassung der Kritiklosigkeit schleppen sich die Menschen, Reger zufolge, mühselig vollgepackt mit Bewunderung durch alle Säle des Kunsthistorischen Museums und haben aus dem Grund einen gebeugten Gang. Das Zeichen von Unterwürfigkeit und Unfreiheit, in dem die innere Einstellung, die Bewunderung, ihre äußere Gestalt, die gebeugte Körperhaltung annimmt.

 

In Alte Meister hat Reger nicht nur die Gewohnheit als Prinzip der Lebensbewältigung und als grundlegende Ordnung der Kultur erkannt, er hat auch eine Methode erfunden, um die Selbsttäuschung des Menschen in Bezug auf die eigenen Kulturwerte aufzudecken. Sein methodisches Instrumentarium gegen die Bewunderung sind Fragment und Karikatur, die beiden Elemente des Lächerlichen. Lächerlichmachen meint Gegenbewunderung, die Reife und Schönheit, Vollkommenheit zerstört, um die Sachverhalte einerseits erkennen, andererseits ertragen zu können. Nur das Unvollständige lasse sich begreifen. Geistesmenschen unterziehen das makellos Erscheinende einer geistigen Prozedur, bis es sich als mangelhaft erweist.

 

Wahrheit liegt im Fragment. Im Bruchstück. Vollkommenheit ist Ideologie, die sich aus Vorurteilen und kritiklos angenommenen Werten zusammensetzt. Das gilt auch für die großen Werke der Kunst. Da das Vollkommene uns ununterbrochen mit Vernichtung drohe und uns tatsächlich vernichte, sucht Reger in jedem Werk der alten Meister nach einem gravierenden Fehler, ein Verfahren, das immer zum Ziel geführt habe: „Keines dieser weltberühmten Meisterwerke, gleich von wem, ist tatsächlich ein Ganzes und vollkommen. Das beruhigt mich, sagte er. Das macht mich im Grunde glücklich. Erst wenn wir immer wieder darauf gekommen sind, dass es das Ganze und Vollkommene nicht gibt, haben wir die Möglichkeit des Weiterlebens. Wir müssen nach Rom fahren, um festzustellen, dass die Peterskirche ein geschmackloses Machwerk ist, der Bernini-Altar eine architektonische Stumpfsinnigkeit, sagte er. Wir müssen den Papst von Angesicht zu Angesicht sehen und persönlich feststellen, dass er alles in allem ein genauso hilflos-grotesker Mensch ist, wie alle anderen auch.“[xviii] Das Leben als Ganzes betrachtet verursache ein unerträgliches Grauen. Derjenige, der nicht bewundert, ist der Kopf, der ohne Vorurteile an die Betrachtung der Welt und der menschlichen Existenz herangeht und selbstbewusst sich und der Welt gegenübertritt.

 

Wahrheit liegt in der Karikatur. Die Karikatur ist bei Bernhard Teil des Wesens einer Sache. Die Details der Dinge und die Atome der Gesellschaft - die Individuen - sind aber nur dann Träger von Wahrheit, wenn sie nicht wiederum als ein Ganzes betrachtet werden. Alles, was uns als reif und fertig erscheint, muss zur Karikatur gemacht werden, um es zu erkennen. „Wenn wir längere Zeit ein Bild ansehen und ist es das ernsthafteste, wir müssen es zur Karikatur gemacht haben, sagte er, um es auszuhalten, also auch die Eltern zur Karikatur, die Vorgesetzten, so wir welche haben, zur Karikatur, die ganze Welt zur Karikatur“[xix]. Die Literatur von Bernhard ist keine Karikatur des Menschen und der Gesellschaft im engeren Sinn, und ebensowenig ihre belustigende Darstellung oder Übertreibung. Das karikierende Element ist eine Folge seiner Präzision und seiner Treue zum Detail, das er so genau beschreibt, dass es überhaupt erst sichtbar wird. Es erfordert aber „die Höchstkraft des Geistes“, die ganze Welt zur Karikatur zu machen.

 

Wahrheit liegt in der Lächerlichkeit allen Daseins. Im Fragmentieren, im Karikieren und im Lächerlichmachen zerstört Bernhard von Menschen entwickelte Werte: „Schließlich fällt am Ende alles der Lächerlichkeit oder wenigstens der Armseligkeit anheim, es mag so groß und bedeutend sein, wie es will.“[xx] Die Überwindung der Strenge liegt im Übertönen des Weltschmerzes durch das Lachen über die menschliche Existenz. Das Gefälle von der Bewunderung zur Lächerlichkeit ist ein Weg der Erkenntnis und der Lebensbewältigung. Kulturwerte sind relativ. Ihre Bewunderung lähmt die Wahrnehmung und lässt die Suche nach dem Wesen einer Sache scheitern. Die Einsicht in die Absurdität und Sinnlosigkeit des Daseins kommt in der Erkenntnis der Lächerlichkeit des Daseins zum Ausdruck. Ist die Gewohnheit das Element zum Aufbau einer Gegenkultur, zersetzt das Lächerlichmachen die in einer Hierarchie geordneten Kulturwerte, bis ihre Rangfolge einer Gleichheit weicht. Das lächerlich Gemachte schafft Leerstellen für neue Bewertungen und in der Vernichtung der Werte entsteht die innere Haltung der Entspannung, des Humors und des Gelassenseins.

 

  

Gelassenheit

 

Gelassenheit bedeutet ruhig und gelöst sein. Der Geistesmensch findet Ruhe, indem er sich in die Welt fügt und Andere und Anderes in Ruhe lassen kann. Nachdem er den Schmerz rationalisiert und der eigenen Form untergeordnet hat, kann er sich mit dem Leben verbinden, sich vom Bedrohlichen und Gemeinen des Daseins berühren lassen und sogar die Fragwürdigkeit seiner einseitigen Betrachtungsweise wahrnehmen. Thomas Bernhard - in dessen Wesen Rudolf Brändle schon früh eine „heitere Gelassenheit“ entdeckt hat[xxi] - hat den Geistesmenschen von Roman zu Roman entwickelt: Er hat ihn das Fragile und Beunruhigende des Menschen durchschauen und darstellen lassen und ihn mit den Mitteln der Askese und der Selbstdisziplin von einem Scheiternden zu einem Überwinder gemacht, der sich die Welt erschließt und das Dasein bewältigt. In fest umrissener Form finden sich Lächerlichkeit und Gelassenheit erst in den späten Romanen. Die Möglichkeit des Gelassenseins und des Lachens über die eigene Existenz gibt dem Geistesmenschen Kraft, auf die Welt zu und in den Schmerz hineinzugehen.

 

Im Roman Der Untergeher hat Bernhard die ungezwungene Betrachtung der Welt am weitesten entwickelt. Wie in all seinen Werken behandelt der Roman schicksalhafte Fragen: den Tod und die Kunst, den Selbstmord, den Alltag und das endlose Streben nach Perfektion. In einem Meisterkurs für Pianisten bei Vladimir Horowitz in Salzburg lernt er Wertheimer und den später Weltruhm erlangenden Glenn Gould kennen. Angesichts des Genies von Gould geben die beiden anderen ihre Pianistenlaufbahn auf und werden Schriftsteller. Der Ich-Erzähler sucht in der Abgrenzung zu Gould und Wertheimer - der sich achtundzwanzig Jahre nach Goulds Salzburgaufenthalt selbst tötet - und in der Annäherung an beide, nach der eigenen Identität.

 

Glenn Gould verkörpert die aktive Seite des Geistesmenschen. Er ist genial und rücksichtslos gegen sich und andere. Ein Ausnahmemensch, der über extreme Eigenarten verfügt: über eine bedingungslose Selbstdisziplinierung, ein unbändiges Präzisionsstreben und einen Ordnungsfanatismus. Obwohl an der Lunge erkrankt und ein Kunstmensch, der der Natur zu entkommen trachtet, ist er ein athletischer Typ. Er lebt auf das Ziel hin, Klaviervirtuose zu werden und ordnet sein Leben dem Ziel unter. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn verweigert er öffentliche Auftritte und zieht sich bis zu seinem Tode in sein Studio zurück, in dem er - dem Roman zufolge - einundfünfzigjährig am Klavier sitzend einen Schlaganfall erleidet und stirbt. In der Weise, wie rücksichtslos er seinen Weg verfolgt, kommt ein aggressives Moment zum Ausdruck: Zwar hat er Wertheimer, indem er ihn einen Untergeher nennt, richtig erkannt, ihn damit aber auch vernichtet, tödlich getroffen. Seine Aggression ist kein Ressentiment - Zorn und Wut des obsessiven Verlierers -, sondern Festigkeit und Logik, mit der starke Menschen ihren Lebensweg beschreiten.

 

Wertheimer verkörpert die passive Seite des Geistesmenschen. Zaghaft und fanatisch, voller Selbstmitleid und Ressentiment ist er ein brillianter Klavierspieler, der in der Perfektion nur wenig hinter Gould zurückbleibt. Doch die Differenz ist Anlass für seine Lebenstragödie: Er kann seine Rolle nicht annehmen: „Alles Wertheimersche ist nicht aus Wertheimer selbst gekommen,“ sagt der Erzähler, „alles Wertheimersche war immer nur ein Abgeschautes, ein Nachgemachtes“[xxii]. Er wäre gerne Glenn Gould gewesen, aber auch Gustav Mahler oder Alban Berg. Dazu aber reichen seine Fertigkeiten nicht aus. Er ist der Typ des scheiternden Geistesmenschen, der an einer einzigen Entscheidung - die Pianistenlaufbahn aufzugeben - zugrunde gehen kann.

 

Der Ich-Erzähler verkörpert aktive und passive Seiten des Geistesmenschen. Er hat nicht das Genie von Gould, wollte aber auch nie ein großer Pianist werden. Weder die Kunst noch das Klavierspielen haben ihn zur Musik gedrängt. Es war allein die Opposition gegen die Familie. Zwar war er ein herausragender Klavierspieler, aber er hat sofort erkannt, dass Gould das größere Talent besitzt und daraus die Konsequenz gezogen. Er hätte besser spielen müssen als Glenn, das aber war nicht möglich. Wie Reger in Alte Meister sind ihm die höchsten Werte der Kultur nicht das Wesentliche. Er folgt seiner Einsicht, dass Authentizität, Glaubwürdigkeit und Lebenskunst lebenswichtiger sind als virtuoses Pianistentum, denn die höchste aller Künste sei die Lebenskunst. Ihn hat der Entschluss, die einmal begonnene Laufbahn des Pianisten aufzugeben, gestärkt, und die Idee, die er sich zu eigen gemacht hat, dass jeder „ein einmaliger Mensch und tatsächlich, für sich gesehen, das größte Kunstwerk“[xxiii] ist, hat ihn immer wieder gerettet. Scharfsinnig analysiert er die Position zwischen seinen Gefährten und sucht in ihr den eigenen Standort: Zur Strenge und Härte des Genies und zum Scheitern Wertheimers erkennt er seine Differenz und kann sich den eigenen Lebensweg nachträglich vor Augen halten, Bilanz ziehen und mit Gelassenheit in die Zukunft blicken.

 

Im Untergeher treibt Bernhard sein Prinzip, das Objektiv, bis an die Grenze. Der Vergleich zweier Geistesmenschen gibt dem Ich-Erzähler die Möglichkeit, dem eigenen Denken, Fühlen und Verhalten auf die Spur zu kommen. Er erfährt eine Wendung zur Gelassenheit. Er vermeidet die extremen Standpunkten der Freunde und stützt sich auf die Lebensmaxime, Glück könne in der Erkenntnis der Einmaligkeit der eigenen Person liegen, denn er sieht in der Verzweiflung Wertheimers ein ebenso krankhaftes, neurotisches Verhalten wie in Goulds Streben nach Ordnung und Perfektion. Über das Zusammenstimmen von Einzigartigkeit, Erfolg und Lebensbewältigung hat sich Bernhard in einem Interview ähnlich geäußert: Mit seiner Literatur erzeuge er etwas, das ihm auf der ganzen Weltkeiner nachmache. Mit der Einsicht in das eigene Wesen gewinnt sein Ich-Erzähler seine Identität und die sich mit der Gelassenheit einstellende Dimension des Objektivs zeigt einen Geistesmenschen, der seinen Schmerz tragen kann. Vorher aber muss er die radikale Trennung vollziehen. In Die Billigesser sagt Koller, der Geistesmensch tut gut daran, „von allem Anfang an gegen die Eltern und gegen die Lehrer und gegen die Gesellschaft und überhaupt gegen alles zu sein, um sich erst einmal vollkommen von diesen Eltern und diesen Lehrern und dieser Gesellschaft freizumachen, um sich dann mit der Zeit, tatsächlich scharf und schonungslos beobachten und beurteilen zu können.“[xxiv] Von der Welt der Dinge, der Ereignisse und der Begebenheiten löst sich der Geistesmensch durch die Begrenzung der Sinnestätigkeit und bringt eine intellektuelle Welt mit eigenen Ordnungen, Werten und Verhaltensweisen hervor, die seine wirkliche Welt ist. Im Freisein von konkreten, historischen und privaten Ereignissen entsteht die zeitlose literarische Figur, die noch lange nach dem Tod von Thomas Bernhard das schlüssige Bild des Menschen sein wird.

  

 

 

 

[i] Thomas Bernhard, Frost, Frankfurt/M. 1994, S. 79.

[ii] Thomas Bernhard, Frost, a.a.O., S. 11.

[iii] Thomas Bernhard, Frost, a.a.O., S. 125.

[iv] Thomas Bernhard, Frost, a.a.O., S. 7.

[v] Thomas Bernhard, Frost, a.a.O., S. 164.

[vi] Thomas Bernhard, Auslöschung, Frankfurt/M. 1986, S. 252.

[vii] Thomas Bernhard, Alte Meister, Frankfurt/M. 1988, S. 46.

[viii] Thomas Bernhard, Die Kälte, München 1995, S. 69.

[ix] Thomas Bernhard, Die Kälte, a.a.O., S. 49.

[x] Thomas Bernhard, Der Atem, München 1990, S. 48.

[xi] Thomas Bernhard, Die Kälte, a.a.O., S. 42.

[xii] Thomas Bernhard, Verstörung, Frankfurt/M. 1996, S. 23.

[xiii] Thomas Bernhard, Auslöschung, a.a.O., S. 317.

[xiv] Thomas Bernhard, Am Ortler, in: Thomas Bernhard, Erzählungen, Frankfurt/M. 1988, S. 174.

[xv] Thomas Bernhard, Holzfällen, Frankfurt/M. 1984, S. 31.

[xvi] Hans Höller, Thomas Bernhard, Reinbek 1993, S. 75.

[xvii] Thomas Bernhard, Alte Meister, a.a.O., S. 143.

[xviii] Thomas Bernhard, Alte Meister, a.a.O., S. 42f.

[xix] Thomas Bernhard, Alte Meister, a.a.O., S. 117.

[xx] Thomas Bernhard, Alte Meister, a.a.O., S. 87.

[xxi] Zeugenfreundschaft. Erinnerungen an Thomas Bernhard, Salzburg und Wien1999, S. 95.

[xxii] Thomas Bernhard, Der Untergeher, Frankfurt/M. 1988, S. 124.

[xxiii] Thomas Bernhard, Der Untergeher, a.a.O., S. 134.

[xxiv] Thomas Bernhard, Die Billigesser, Frankfurt/M. 1988, S. 100.

 

 

 

© Hajo Eickhoff 2001

 

 




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