Kontakt
555-555-5555
mymail@mailservice.com

Thomas-Bernhard-Tage

Sektion: Anatomie der Disziplinarmächte, Literaturhaus, Berlin, 16.9. bis 20.9. 1998

aus: H0ell, Joachim/ Honold, Alexander/ Luers-Kaiser, Kai (Hrsg.), Eine Einschärfung, Berlin 1998 

 

 

Schmerz als Architektur des Seins

Thomas Bernhard und die Physis

 

Im Winter fällt dann der Schmerz als Schnee.

Thomas Bernhard, Frost 



Ein Unraum. Bestimmt für Menschen, denen das Leben schwer werden soll. Der bloße Aufenthalt in ihm bereits Folter. Architektur und doch kein Raum. Ein kultureller Verhau, geschaffen von Menschen für Menschen. Das Ungemach. Im Ungemach, erfunden für eine Folter allein durch Raumenge, stoßen die Wände mit der Decke und dem Boden so schnell aneinander, dass die Enge dem Verurteilten keine menschenwürdige, nicht einmal eine menschliche Haltung einnehmen lässt: Weder hocken, kauern noch knien, weder stehen, sitzen noch liegen sind möglich. Enge. Schmerz. Todesangst. Was als eng empfunden wird, ist relativ. Sagt man. Hier aber hat die Enge ein absolutes Maß gefunden. Berechtigte Todesangst. Der Tod ist Ziel und Ende der Haft.

 

Thomas Bernhard ist die gesamte Welt ein Ungemach, die universale Architektur ein Unraum. Von Anbeginn an. „Auch das Universum“, sagt der Maler Strauch in Frost, „ist viel zu eng, unter Umständen“, unerträglich und immer nur zum Tode hinführend. Kein Wohnen, nur Aufenthalt. Kein Friede, nur Krieg, wohin man sieht. Kein Sinn, nur dumpfes und stumpfsinniges Vegetieren. Daher die Grausamkeit des Daseins. Kein Trost von außerhalb. Klima, Landschaft, Fauna. Alles Schmerz, Angst und Verzweiflung. Von düsteren und beklemmenden Tälern ist die Rede, von Weltgestank und emboliefördernden Witterungseinflüssen, von der Aurachengstelle, von schlechter Luft und von der Enge des Halses. Immer muss bei Bernhard das Leben durch Engpässe getrieben und gepresst werden, damit es vorankommt. Bis zum Tod. Solche Engstellen sind die Rachen der Welt, die das Leben verschlingen. Zähne der Geographie. Zähne des Lebendigen. Rachezähne der Kultur.

 

Thomas Bernhard ist der Episkopos, der Über-Seher des Weltzustandes, der sehend jenseits, neben und über der Welt ruhelos hin und her geht. Er nimmt einen Beobachtungsort jenseits unserer Kultur ein, und arbeitet an der Erkenntnis der Welt außerhalb der philosophischen Sprache der Erkenntnis. Die individuelle Bildung durch den Großvater lässt ihn anders als üblich auf das Wissen zugehen, die Abwesenheit des Vaters ruft in ihm Neugierde nach dem Ursprünglichen hervor, und Krankheiten, die ihn zeitlebens begleitet haben, haben ihn Geist, Seele und Körper verstehen lassen. Auf diesem Hintergrund gelingt es ihm, der Wahrheit nahe zu kommen und den Gründen unserer Ratlosigkeit, des Ressentiments, unserer gegenwärtigen Lähmung und der weltweiten Destruktion einen philosophischen Rahmen zu geben.

 

Als zentrale Form des Daseins und als Form der Erkenntnis hat Bernhard den Schmerz und seine Erscheinungsformen wie Furcht, Krankheit, Depression oder Verzweiflung in seinen Romanen beschrieben. Das Wesen der Natur, der Physis, ist Grausamkeit, was sie hervorbringt, Schmerz. In einem langen Prozess der Beruhigung und Zivilisierung hat der Mensch versucht, diese Schmerz bereitende Seite der Natur zu überwinden. Doch der Aufstand gegen die Natur ist nach Bernhard gescheitert. Die Grausamkeit hat lediglich ihre Gestalt gewandelt und die Möglichkeiten des Schmerzzufügens erhöht. Jagen und Gejagtwerden als unablässiger Lebenskampf ist das grundlegende Erhaltungsprinzip geblieben. Für Strauch ist die Jagd der einzige Zustand zwischen den Weltmächten, zwischen Mensch und Mensch wie zwischen Tier und Mensch.

 

Was das Leben schmerzvoll und grausam macht, ist der Zwang zur endlosen Selbstbehauptung. Lebewesen sind daraufhin geordnet, sich in einer festgelegten Richtung zu verschlingen. Potentiell ist der Feind immer gegenwärtig. Um die Natur, die sichtbare, oberflächliche, schöne Erscheinung des Gegebenen, zu untersuchen, reißt Bernhard ihr die Fassade herunter, analysiert innere Naturabläufe und legt ihr Wesen frei. Er folgert, dass die Natur vernunftbegabt und beseelt, vor allem aber grausam ist. In Frost ist von einer Gegend die Rede, die einem fortwährend ins Gesicht schlägt und von Landstrichen, durch die „auf die Dauer Menschen verrückt werden.“ Wie der Mensch wird auch die Landschaft bedrängt. Sie unterliegt der mächtigen Gewalt des Klimas, das „ganzen Gebirgsmassiven ins Gesicht schlägt, dass sie zittern.“ Aber die Menschen, die vom Klima und von der Landschaft niedergedrückt werden, greifen nicht nur formend und zerstörerisch in die Landschaft und das Klima ein, das Grausame der Natur setzt sich in den Institutionen der Gesellschaft fort. Wie die Landschaft mit dem Menschen, das Klima mit der Landschaft und der Mensch mit beiden umgeht, so gehen auch die Menschen miteinander um. Die kulturellen Einrichtungen einer Gesellschaft verankern das Grausame der Natur in der Kultur. Durch sie hat sich das gegenseitige Verschlingen und Schmerzbereiten kultiviert und zu neuen Formen der Macht gewandelt: Die sozialen Verhältnisse sind Gewaltverhältnisse. Direkte Angriffe auf den Körper geschehen auf Schlachthöfen, im Straßenverkehr, in menschlichen Beziehungen.

 

Der Mensch kommt bereits als Schmerzenswesen auf die Welt. Der Geburtskanal ist der erste Engpass, die erste Berührung mit der Welt das erste Ungemach. Der neue Mensch kommt nicht freiwillig. Jedes Gebären ist Bernhard ein „Kinderherausziehen in die Welt“. Ein Abschneiden von der Herkunft. Hier haben Angst, Schmerz und Verzweiflung des einzelnen ihre Grundlage. Geburt und Erziehung, gesellschaftliche Institutionen und das Leben in der Gesellschaft tragen den Schmerz in den einzelnen Menschen hinein, der ihn durch eigene Nachkommen und das Wirken in der Gesellschaft an die Zukunft weitergibt.

 

Bernhard taucht in Oberflächen ein, drängt hinter verstellende Kulissen, deckt Täuschungen auf, zieht Masken herunter und führt das Verhalten des Menschen und sein schmerzvolles Sein kompromisslos auf die Grausamkeit der Natur zurück. Den Fragen, wovon er abhänge, wer er sei, wohin er wolle und was seinen Weg verstelle, ist der Mensch nach Bernhard bisher nicht radikal genug nachgegangen. Schmerz als Daseinsprinzip musste ihm deshalb verborgen bleiben. Dagegen ist Bernhard der Philosoph des Schmerzes, der dem Leiden in all seinen Formen unerbittlich nachstellt.

 

Der Schmerz ist das Element, das alle Teile des Universums miteinander verbindet. „Kein Gegenstand, nichts sei stumm. Alles drücke fortwährend seinen Schmerz aus“, heißt es in Frost. Für Bernhard ist die Welt eine dynamische Einheit des Naturganzen, kein Mechanismus. Anders als für diejenigen, die das geozentrische Weltbild durch ein anthropozentrisches ersetzen, ist der Mensch für ihn nur Teil des Ganzen, nicht sein Zentrum. Darin steht er Kepler, Leibniz und Alexander von Humboldt nahe. Indem er die Welt radikal und einseitig unter dem Aspekt des Schmerzes fasst, trifft er etwas Wesentliches unserer Existenz: Jenseits der Gewohnheit, Gewohnheit ist bei Bernhard ein wesentliches Element der Lebensbewältigung, ist das menschliche Dasein ohne Sinn, reich an Schmerz, trostlos und absurd. Wie Menschen haben Steine, Pflanzen und Tiere Qualitäten der Empfindung und des Ausdrucks. Grenzen gibt es zwischen ihnen ebensowenig wie zwischen Gegenständen und Gedanken, Gedanken und Gefühlen oder der belebten und unbelebten Natur. Das ist Bernhards Sicht von der Gleichwertigkeit der Dinge. Schmerz ist eine Substanz des Seins, die alles miteinander vergleichbar macht.

 

Für die Wahrnehmung des Körpers hat der Schmerz eine grundlegende Bedeutung. Wenn der Mensch im Verrichten der Arbeit oder im Spiel bei den Dingen ist, mit denen er umgeht, ist sein Körper in seiner Wahrnehmung nicht anwesend und erscheint unbegrenzt. Ein gutes Körpergefühl haben bedeutet gerade, den Körper nicht zu fühlen. Aus dieser Abwesenheit heraus entwickelt sich der Körper zu einem anwesenden erst in der Störung, etwa in der Krankheit oder im Schmerz. Der Weltbezug wird zum Selbstbezug. Es sind Missempfindungen, die den Körper verräumlichen und den der Mensch erst dann als physikalischen Körper wahrnimmt, und erst jetzt kann der Mensch, wie Strauch, auf einzelne Organe aufmerksam werden: „Jedes Organ ist für mich ein feststehender Begriff, ein für mich schon längst abgeschlossener Schmerz.“ Der Schmerz kann den Körper auf den begrenzten Ort des Schmerzes reduzieren oder so umfassend sein, dass er den Körper ganz ausfüllt. „Die Qual ist in meinem Körper wie ein zweiter Körper, in meinem ganzen Körper wie ein zweiter ganzer Körper“, sagt der Fürst Saurau in Verstörung. Sein Körper ist Sarg seines Körpers.

 

Thomas Bernhard blickt mit den Augen des Ausgeschlossenen, des Kranken und des Verrückten auf die Natur. Von seinem mit Atemnot verbundenen Kranksein, das ihn zeitlebens begleitet hat, hat er gesprochen. Jemand, dem der Körper immer anwesend ist, fühlt mehr als alle anderen die atemverzehrende Gegenwart. Er gibt dem Schmerz aber eine Richtungsänderung, eine Wende vom Leib in den Geist. Sein Denken kreist um den Geist und den Körper, die er über den Schmerz öffnet und begehbar macht. Er schafft Denkraum. Vom Schlagen eines Gedankengangs an die Schädelinnenwand ist die Rede, vom „Untergehörgebälk“, davon, dass jemand „in seinen Verzweiflungen hin und her“ geht oder davon, „wie man einen Menschen in seinem Gedächtnis aussetzt“. Geist und Körper sind Schmerzgebäude und Schmerz ist ein Produkt der Erkenntnis. Das Besondere bei Bernhard ist, dass er sich vom Körper abwendet und sich dem Geist zuwendet, um sich im Geist dem Körper zuzuwenden. Dazu hat er sich den eigenen Körper in einer Weise bewusst gemacht, dass er den Schmerz in all seinen Arten und Intensitäten wahrnehmen kann: den seelischen und den körperlichen, den geistigen, den politischen und den ästhetischen Schmerz. Er hat den Schmerz verkörpert und ihn dadurch anschaulich und aufschreibbar gemacht.

 

Das Leben im Geist ist eine hohe Stufe des Daseins. In ihr entfernt sich der Mensch am weitesten von der Natur und von der Natur in sich. Bernhards Geistesmenschen weichen dem Schmerz nicht aus, sie bewältigen das Leid, indem sie in das Leiden geistig hineingehen. Sie werfen sich auf die Kunst oder eine wissenschaftliche Studie, treiben ihre Selbstdisziplin und ihre Konzentration auf das Denken bis zum äußersten und reduzieren den Gebrauch der Sinne auf das Notwendigste. Sie beschränken sich meist auf einen Sinneskanal, den visuellen, den Erkenntnissinn, verfangen sich aber bald in ihren komplexen Gedankensystemen. Nur im Denken existierende Menschen geraten, wie Koller in Die Billigesser, nach und nach in völlige Isolation, „in welcher sie ihr Denken solange denken und intensivieren und alles außerhalb ihres Denkens solange ignorieren, bis sie von dieser Leidenschaft erdrückt und erstickt und vernichtet werden.“ Das extreme Geistesleben ist ein Leben im Scheitern, denn die Geistesschärfe korrespondiert mit dem Mangel an Sinnesaktivität. Der sich zu weit vom Körper zurückziehende Geist verursacht Enge und aus dem Gefühl entleerter Sinne wiederum Schmerz. Eine zu große Disziplinierung des Geistes führt in den Wahnsinn hinein und macht dem Geistesmenschen auch die Geisteswelt, die ihn aus dem Ungemach herausheben sollte, zum Ungemach. Seinen brillanten und treffenden Analysen von Gesellschaft und Welt steht die Unfähigkeit gegenüber, aus dem Wissen Lebenssinn, der an den Gebrauch der Sinne gebunden ist, zu ziehen, und das Wissen zu vermitteln, weil ihm soziale Beziehungen und ein tätiges Dasein nichts mehr bedeuten.

 

Die Geistesmenschen der frühen Romane sind dem Schmerz ausgeliefert. Hasserfüllt gegen Natur, Mensch und Kultur leben sie nur noch auf den Tod hin. Sie sind Verzweifelte und Gescheiterte. Danach verschiebt Bernhard die Perspektive unmerklich, bis sich am Spätwerk Elemente einer Lebensbewältigung ablesen lassen. In der Komik etwa: der Hund Schopenhauers wird im Roman Beton zum Urheber des Werkes des Philosophen; im Witz in Bezug auf die Fotografie in Auslöschung: Wir beschimpfen Köpfe, „die nur einen einzigen Zentimeter Durchmesser haben“; in der Hingabe Regers an die Kunst in Alte Meister: „in der Kunst habe ich mich immer geborgen gefühlt“. Ist Schmerz auch das Wesen des Daseins, die Protagonisten können nun mit ihm leben.

 

Thomas Bernhard gibt der Weltbetrachtung eine neue Richtung. Einen Blick ins Innere, einen Einblick in die Physis. Er tastet den Innenraum des Menschen ab, durchschreitet und erkundet einfühlsam und sensibel die Bereiche der Existenz und lenkt den Blick radikal auf den vom Schmerz getroffenen und im Schmerz gefangenen Menschen. Er fasst den Schmerz als Architektur des Seins und beschreibt, wie sich hinter dem Mühen des Menschen, dem von der Natur auferlegten Schmerz zu entgehen, Verzweiflung und Hilflosigkeit verbergen. Mit dieser Einsicht gibt der Literat und Geistesmensch Thomas Bernhard dem Menschen das, was die Natur ihm nicht geben kann: Achtung und Ruhe im Schmerz.

 


© Hajo Eickhoff 1998

 

 

 

 


Share by:
google-site-verification: googleb24ea1bbee374379.html