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Vortrag in Brasilia 2015



Der Genuss der Theorie

Das Bewahren des Freiseins von Nutzen und Zweck

 

 

 

Wird nach der Bedeutung der Geistes- und Sozialwissenschaften für

die Gesellschaft gefragt, ist immer ein dritter Bereich mitgedacht: die

Naturwissenschaften, die zu einem hohen Maß bestimmen, was unter Wissenschaftlichkeit zu verstehen ist. Wissenschaft ist ein Erkenntnis-

System über die grundlegenden Eigenschaften der Welt. Sie umfasst

die Natur, das Denken und die Kultur, die durch Begriffe, Gesetze,

Theorien und Methoden bestimmt sind, um einem Begründungs-

zusammenhang herzustellen. Zugleich ist sie die Tätigkeit des Forschens

und Suchens nach begründetem, geordnetem und gesichertem Wissen.

 


1. Antikes Wissen

 

Fragen nach der Bedeutung von Wissen und Wissenschaft entstehen in der Krise, von denen ich zwei hervorhebe: die eine betrifft die Erkenntnis, die andere die Anerkennung und die Förderung von Wissenschaft.

Die Erkenntnis-Krise liegt in der grundsätzlichen Fraglichkeit aller Wissenschaft. Doch jede hat auch ihre spezifischen Krisen wie die Frage nach der Schwarzen Materie in den Naturwissenschaften oder die Begründbarkeit von Wissen in den Geisteswissenschaften.

Heute prägen Naturwissenschaften und technische Disziplinen die Welt und versprechen Produkte, die die Wirtschaftskraft fördern, Profit garantieren und Einfluss sichern. Als Leitwissenschaft gilt die Wirtschaftswissenschaft, wie die Ökonomisierung von Bildung und Kultur und das Denken in den Kategorien des Marktes zeigen.

Wissenschaft beginnt aus Neugierde, Lust und Interesse, gleichermaßen für die sichtbaren wie für die unsichtbaren Phänomene. In der Antike haben Wissenschaft noch keinen zwingenden Bezug zu Nutzen und Gewinn. Früh entstehen die Wissensgebiete, die sich zu den sieben freien Künsten aus Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) verbinden. Platon fordert vom Staatsmann die Beherrschung von Philosophie und den Disziplinen des Quadriviums, damit dieser die Gemeinschaft gut führen kann. Dagegen setzt Aristoteles auf die Würde des freien Mannes und die Beherrschung dreier Lebensbereiche, die sich alle auf das Schöne beziehen. Der Genuss des körperlich Schönen (bios apolaustikos), das Ausüben schöner Taten im Rahmen der Polis (bios politikos) sowie die Beschäftigung mit schöngeistigen Dingen (bios theoretikos). Ihm erscheint das bloße Erwerbsleben und das Streben nach Reichtum verfehlt, denn der Mensch soll nach dem Guten streben.

Die sieben freien Künste bilden von Augustinus bis ins 18. Jahrhundert hinein den Kanon des Studiums und enthalten wenig technisches Wissen, da techne kein hohes Ansehen genießt und nicht zufällig Tücke und Hinterlist heißt.

 

2. Neues Wissen

 

Mit der Renaissance ändern sich die Vorstellungen von Wissenschaft und Kunst sowie von Technik, Kultur und Wirtschaft. Das technische Wissen wird infolge des wirtschaftlichen und politischen Aufschwungs des Bürgertums aufgewertet. Es sind die Ausweitung von Handel und Handwerk, die eine Neudefinition von Wissenschaft und Wahrheit fordern, denn von Anbeginn an bilden in den Städten Europas Handel und Technik, Handwerk, Schule und Universität ein enges Netzwerk, das den christlichen Glauben als Quelle der Wahrheit zurückdrängt. Leonardo da Vinci formuliert es deutlich: „Die Mutter aller Erkenntnis ist die Erfahrung.“ In der Kunst werden Landschaft, Natur und Porträt bildwürdig und die Perspektive wird erfunden. Die Naturwissenschaften entwickeln die empirische Methode. Die Grundlage bietet die Beobachtung der Natur: Es wird vermessen und geometrisch gefasst, um Naturerscheinungen als mathematische Zeichen darzustellen, bis heute ein praktiziertes Verfahren naturwissenschaftlicher Praxis. Für die Dingwelt und den Bereich der Natur, der sich mechanisieren lässt, ist das Verfahren anwendbar, und darin besteht auch ihr Erfolg: in der Produktion von Dingen, Werkzeugen und Apparaten wie Automobile und Krüge, wie Computer und Tische.

Doch die Verallgemeinerung der Methode muss scheitern. Wie bei der Anwendung auf die Wissenschaften vom Leben. Etwa der Biologie, denn Lebensvorgänge lassen sich nur bedingt geometrisieren und statistisch erheben. Auch Geisteswissenschaften haben es entweder nicht oder nur peripher mit Messbarem zu tun. Ihre Wahrheiten lassen sich nur in Kontexten gewinnen – nicht in Zahlenkombinationen. Ihre Wahrheiten liegen eher zwischen Zahlen und empirischen Daten. Gefühle, Geschmack, Töne und die Wirkungen einer Farbe auf den Menschen entziehen sich der Messbarkeit.

Die Bedeutung der Geistes- und Sozialwissenschaften für die Gesellschaft ist erheblich. Wir erfahren von ihrer Bedeutung, wenn wir fragen, was das Leben ist. Menschen sind nicht in erster Linie konsumierende, sondern kommunizierende Wesen, deren Sicherheit und Selbstverständlichkeit im Vertrauen zu anderen Menschen und im Selbstvertrauen liegen. In dieser Sphäre geht es um Bedürfnisse und Herausforderungen, um Freude und das Mitwirken an der Gemeinschaft. All das kommt vor dem Besitz an Dingen und vor Reichtum, Gewinn und stimmigen Bilanzbüchern.

 

3. Kultur und Bilanzbuch

 

Neben meiner Arbeit als Wissenschaftler arbeite ich als Berater eines Unternehmensberaters. Wir beschäftigen uns mit all dem, was nicht in den Bilanzbüchern der Unternehmen vorkommt.

Wir analysieren das Management, Arbeitsstrukturen, gemeinsame Arbeitsabläufe und die Motivation der Mitarbeiter. Wir finden immer bestätigt, dass etwa 1/3 aller Investitionen eines Unternehmens aufgrund interner, persönlicher Reibereien verlorengehen. Was auch für Universitäten und andere Institutionen gilt. Informationen werden nicht weitergeleitet oder verändert, Mitarbeiter können einander nicht ertragen und werden krank, Arbeitsstellen werden nicht sachgerecht besetzt. Wenn Regierungsvertreter fragen, ob der Staat ein jährliches Wachstum von einem Prozent, von 1,8 oder doch nur von 0,4 Prozent erreichen wird, ist das ein Bruchteil dessen, was an internen Querelen verlorengeht. Und gerade diese Differenz erweist sich als enormes Potenzial, weil Unternehmen lange Zeit ohne Zwang zum Wachstum bestehen können, wenn ihre Mitarbeiter lernen, fairer, offener und gewaltfreier miteinander umzugehen. Eine große Aufgabe für die Zukunft und eine Aufgabe für die Geisteswissenschaften.

Ziel unserer Arbeit ist die Förderung des Wohlbefindens durch die Verbesserung der Arbeitssituation. Nebenbei verbessert sich auch die ökonomische Lage.

 

4. Praktische Forschung

 

In der Schweiz arbeite ich in einem Forschungsteam zur Entwicklung einer neuen Art des Sitzens. Ich beschäftige mich seit 35 Jahren mit dem Sitzen auf Stühlen. Es ging um die Frage, was das Sitzen auf Stühlen bedeutet: wo es entstand, wer es erfand und zu welchem Zweck, wie es sich entwickelt hat, was seine Vor- und was seine Nachteile sind und warum wir so hartnäckig am Stuhl festhalten. Ich bin im Team der einzige Experte zu dem Thema und der einzige Geisteswissenschaftler, aber diese Forschung dominieren Ingenieure, Orthopäden und Erfinder. Am Ende wird es einen nach bionischen Prinzipien entwickelten Stuhl geben, doch an den Problemen als Folge des Sitzens im Büro wird der Stuhl nichts ändern.

Eine Körperhaltung, die ich einnehme, ist durch Bewusstheit, Wissen, Gewohnheit und den Willen bestimmt – nicht durch den Stuhl, denn der Mensch kann auf einem guten Stuhl eine schlechte Haltung einnehmen und auf einem schlechten Stuhl eine gute Haltung. Das können Naturwissenschaftler nicht akzeptieren, denn wenn ich von Bewusstheit und Wille spreche, bin ich nicht mehr in ihrem naturwissenschaftlichen Modus.

 

5. Wege der Geisteswissenschaften

 

Ein guter Arbeitsplatz in Bezug auf die Körperhaltung und deren Wechsel sowie in Bezug auf den Umgang der Menschen untereinander ist eine exzellente Voraussetzung für das Wohlergehen bei der Arbeit. Daher hat der gut eingerichtete Arbeitsplatz eine enorme Wirkung auf den einzelnen, das Unternehmen, die Gesellschaft und letztlich auf alle Menschen. Denn das Beste, das der einzelne der Welt antun kann, ist, dass er so gut wie möglich auf sie zugeht: gut gelaunt, respektvoll und motiviert. Die positive Wirkung des Wohlbefindens dürfen wir nicht unterschätzen.

Geisteswissenschaften wie die Psychologie, Kunstgeschichte und Soziologie, wie Philosophie, Geschichte und Medizin haben Interventionsmöglichkeiten wie Gewaltfreie Kommunikation, Ambiguitätstoleranz, Salutogenese, Unsicherheitsabsorption oder Compliance erarbeitet, die den Menschen gut auf das Leben vorbereiten.

„Das, was nicht in den Bilanzen steht“ könnte ein Paradigma für die Geisteswissenschaften sein: Die Beschäftigung mit dem, was jenseits von Zahl, Maß und Verifizierbarkeit steht. Wissen ist nicht die Kenntnis einzelner Daten, sondern ein Netz von Informationen unterschiedlicher Ebenen und die Kenntnis eines Weges, den ich nachgehen muss, um im Wissensnetz zu kommunizieren. Solche methodischen Vorgehensweisen sind in den Geisteswissenschaften Beweise, die zu Wahrheiten führen.

 

5.1 Gewaltfreie Kommunikation

Gewaltfreie Kommunikation ist ein fairer und verständnisvoller Umgang der Menschen miteinander. Sie geht davon aus, dass Sprache verletzen kann, weshalb sie einer erhöhten Aufmerksamkeit von Zuhören und Sprechen bedarf. Sie ist eine Ökologie des Denkens, Fühlens und Verhaltens. Sie fördert den guten Ablauf von Kommunikation und ist daher wertvoll für Schule, Familie, Politik und Unternehmen. Sie fördert den Respekt für sich und andere und vermeidet Begriffe wie Schuld, Unrecht und Rache.

 

5.2 Ambiguitätstoleranz

Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit von Menschen, Widersprüche, Gegensätze, Ungewissheit und Unsicherheit zu ertragen. Ein Versuch, immer wieder die eigene Perspektive in Frage zu stellen und sich in das Denken, Fühlen und Verhalten anderer einzufühlen. Um sich mit Menschen eines anderen Kulturkreises auseinandersetzen zu können, sind das Schwarz-Weiß-Denken und die vermeintliche Sicherheit in der Abgrenzung von Andersdenkenden aufzugeben.

  Gewaltfreie Kommunikation und Ambiguitätsdifferenz, ebenso Salutogenese, Negative Capability und Unsicherheitsabsorption sind Wege, die die Widerstandskraft und Resilienz des Menschen festigen.

 

5.3 Salutogenese

Gewaltfreie Kommunikation, Ambiguitätstoleranz, Salutogenese und Unsicherheitsabsorption sind Wege zur Stärkung der Resilienz und der Widerstandkraft des Menschen.

 

5.4 Compliance

Dagegen ist Compliance eine Widerstandskraft und Resilienz von Unternehmen. Gerichtet gegen Korruption, Preisabsprachen und schädigendes Marktverhalten. Compliance sichert das Ansehen zum Schutz der Marke. Die Unternehmen selbst beschließen Maßnahmen zur Sicherung einer guten Führung und eines guten Umgangs der Mitarbeiter untereinander, um das employer branding zu festigen – das ist der gute Ruf von Unternehmen, deren Arbeitsplätze begehrt sind, weil die Mitarbeiter sich wohl fühlen, die Arbeit ihnen Freude macht und sie auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten.

 

6. Geschichte

 

Die Geschichtswissenschaft ist eine Schlüsselwissenschaft für unser Weltverständnis. Der einflussreiche Denker des 20. Jahrhunderts Karl Popper ist ein Gegner dieser Wissenschaft. In seinem 2-bändigen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ spricht er allen historisch orientierten Denkern wissenschaftliches Denken ab. Die einzig mögliche Form wissenschaftlichen Arbeitens nennt er Stückwerk. Sie arbeitet ohne Vergangenheit und ohne Visionen, da sie nicht verifizierbar sind.

Dabei kann die Geschichtswissenschaft Perspektiven öffnen und etwa das Phänomen Globalisierung deuten. Globalisierung ist kein Unfall. Sie ist nicht erst hundert Jahre alt, sondern so alt wie der Mensch. Von Anfang an trägt er diese Neigung in sich. Er ist neugierig und intelligent, kommuniziert leidenschaftlich und tauscht sich mit anderen Kulturen – mal friedfertig, mal kriegerisch – aus, hat ein gutes Gedächtnis und gibt Wissen und Können an nachfolgende Generationen weiter, die nun ihrerseits den Prozess gesellschaftlicher Entwicklung fortsetzen.

 Die Globalität ist die historische Phase, in der die Menschen gelernt haben, ihre persönlichen und lokalen Angelegenheiten mit den Angelegenheiten aller Menschen zusammenzudenken. Heute leben wir in einem Haus, das allen und niemandem gehört. Heute, in der Übergangsphase zur Globalität ist, die Weltlage natürlicherweise extrem störanfällig, denn noch nie waren unterschiedlichste Kulturen so eng miteinander verbunden. Die Geschichtswissenschaft offenbart uns solche weitreichenden, wie ich finde beruhigenden Einsichten.

 

7. Philosophie

 

Vielfältig unterstützt die Philosophie das Projekt Globalität. Theorie heißt zuschauen und ist ein denkendes Betrachten dessen, was unwahrnehmbar ist. Was die Sinne uns nicht offenbaren, müssen wir mit geistigem Sinn erfassen. Der Genuss des Theoretisierens liegt im Gedankenabenteuer durch das Freisein von realen Bezügen, von Raum und Zeit und von den Verstandeskategorien.

Theoretisieren ist ein Wagnis, denn alles ist möglich. Und es ist bizarr, wenn wir mit dem Gehirn über den Menschen, sein Gehirn und das Denken nachdenken und uns als immaterielles Wesen vorstellen.

Ästhetik und Ethik sind eng miteinander verknüpft. Ethik – ursprünglich nur für die eigene Kultur formuliert – muss unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Globalisierung, ethische Regeln für die Menschen aller Kulturen formulieren – wie es die UNESCO tut. Umgekehrt gilt, dass schöne Dinge, engagierte Erziehung, gediegene Materialien und liebevolles Verhalten motiviert, anregt und das Wohlbefinden stärkt, das wiederum den guten Umgang mit anderen Menschen fördert. Das ist der Ethik-Ästhetik-Kreislauf.

Da die Technisierung den Menschen von seinem Kompass, den Sinnen ablenkt, erfährt er, dass er ohne den Körper und das Spüren keine Entscheidung für ein gutes Leben treffen kann, denn Lebendigkeit ist an die rege Tätigkeit der Sinne gebunden. Um Naturstoff unter den Bedingungen globalen Wirtschaftens zu schützen, wird eine globale Ethik – eine Weltethik – erforderlich. Eine Aufgabe der Geisteswissenschaften. Aber diese Ethik muss auch überzeugen und ihre Sätze schön formuliert sein. Wie der Satz des Chinesen Meng Tzu: „Es ist möglich, als großer Mensch zu handeln“. Mit diesem einfachen und optimistischen Satz möchte ich enden und ich denke, er könnte ein Paradigma werden für unser berufliches und kulturelles, unser privates und gesellschaftliches Engagement – zum Erhalt der Natur und zum Wohlergehen aller Menschen.

 



 

© Hajo Eickhoff 2015

 



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