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Das Gemeinsame

 


I. Ansammlungen


Überall gibt es sie – Ansammlungen von Menschen. Ausdruck gemeinsamen Erlebens. Reisende und Konsumenten, Läufer und Fans, Demonstranten und Touristen. Zu sehen auf Bahnhöfen und in Citypassagen, auf Marathonstrecken und in Sportarenen und Konzertsälen, vor Regierungssitzen und Sehenswürdigkeiten. Verkörperungen des Gemeinsamen: gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Freuden, gemeinsamer Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen. Auch virtuell gibt es sie – in sozialen Netzwerken wie blogs, Facebook und Twitter. Sie zeigen sich überall, zu jeder Zeit, in unterschiedlicher Form. Die Menschen suchen die Nähe zu anderen und tauschen sich mit denen aus, mit denen sie etwas gemeinsam haben, zu haben glauben oder haben möchten. Gemeinsam stehen sie zusammen, liegen auf Rasenflächen, lümmeln auf Sofas, kuscheln auf Bänken, sitzen auf Stühlen um Tische herum und fliegen in Formationen durch die Luft der Erde entgegen.

Ansammlungen von Menschen verweisen auf ein Bedürfnis nach Kommunikation und Gemeinschaftlichkeit – auf das gemeinsame Erleben eines Ereignisses, der Gesellschaft, der Welt.

Unmittelbare Kommunikation zwischen Menschen verläuft über den Körper. Sie können sich berühren und betasten, sehen, riechen und spüren. Die maximale Ruf- und Hörentfernung sowie Tast- und Sichtweite bilden die Grenzen der unmittelbaren Kommunikation. Deshalb erfindet der Mensch nach und nach Werkzeuge und Medien, die erlauben, das Gemeinsame schneller und über größere Entfernungen mitzuteilen. Rauchzeichen sind weithin sichtbar, Briefe präzisieren die Information und vergrößern die Sendedistanz, Morse und Telefon reduzieren die Sendezeit, bis Automobile und Flugzeuge die Reisezeit radikal verkürzen und die digitale Kommunikation in Windeseile auf Datenbahnen um die Erde rast. Ohne Verzögerung. In Echtzeit. Heute gibt es einen beträchtlichen Hunger nach dem gemeinsamen Erleben. Ein unermesslicher Kommunikationswille, der die Menschheit über alle Entfernungen und Grenzen hinweg erfasst und zusammenbringt. Vorbedingungen eines weltumfassenden Austausches.


II. Das Gemeinschaftswesen


Mit jedem neuen Menschen betritt ein Einzelwesen die Welt. Doch da es in die Welt der Eltern hineingeboren wird und auf sie angewiesen ist, ist es auch ein Gemeinschaftswesen. Insofern führt der Mensch ein Doppelleben: In seiner evolutiven Ausstattung ist er sowohl eine Eins als auch eine Zwei.

Alles Hervorgebrachte ist gemeinschaftlich. Die Eltern erweitern den Kreis der Familie und das Kind schreibt die Eltern biologisch und kulturell fort und entwickelt ihre Lebensformen weiter. Die Eltern vermischen ihre genetische Ausstattung und machen die Nachkommen widerstandsfähiger. Gerade diese zweiseitige Bindung ist es, die den Menschen zum Gemeinschaftswesen macht. Ein Du und ein Ich. Die kleinste Zelle der Gemeinsamkeit. Der konstante und notwendige Hintergrund der menschlichen Existenz. Früh imitieren Säuglinge den Gesichtsausdruck der Eltern. Wird die Imitation beantwortet, stellt sich die erste Wahrnehmung einer gelungenen Kommunikation ein, die Sicherheit gibt und Vertrauen schafft.

Als Gemeinschaftswesen ordnen die Menschen die Welt in der Weise, dass sie gemeinsam ausgelegt und verstanden werden kann und Spielräume für gemeinsame Erfahrungen entstehen. Daher ist die Geschichte der Menschheit die Arbeit daran, miteinander leben zu können – innerhalb der eigenen Kultur und in der Begegnung mit anderen.


III. Einzelwesen


Alles Hervorgebrachte ist Unterscheidung. Als Einzelwesen kennt der Mensch nur eine Welt – die eigene. Jeder ist einzigartig. Niemand kann ganz in die Welt eines anderen eintauchen, denn jeder hat seine ganz persönlichen Sinnesmodalitäten und Wahrnehmungen sowie sein individuelles Bewusstsein.

Über das Einzige und Einzigartige kann man nicht sprechen. Es gibt vom Einzigartigen weder Begriff noch Erkenntnis, weshalb es erstaunlich ist, dass Menschen überhaupt mit anderen kommunizieren können. Hier kommt das Gemeinsame ins Spiel – der einzelne Mensch muss sich ein wenig verbiegen, indem er seine Einzigartigkeit vom hohen Sockel herunterholt und auf eine andere Einzigartigkeit, den anderen Menschen, zugeht, die bei ihm ein Bedürfnis nach Gemeinsamkeit auslöst.

Erst durch den Dreh der Maskerade können Menschen miteinander kommunizieren, erst mit dieser Maskerade – der persona – können sie sich für andere Menschen interessieren, sich austauschen und die jeweils eigene Welt zu einer gemeinsamen Welt machen. Deshalb gestalten sie die eigene Welt so offen, dass sie mit der Welt anderer verwandt wird: Diese Produktion ist die eigentliche Kulturarbeit des Menschen – das Schaffen einer gemeinsamen Welt, die allen verständlich erscheint.

Einzigartigkeit ist ein großes Potenzial. Sie legt nahe, dass der Mensch nicht nur Einzelgänger ist, sondern es auch bleibt. Doch er ist mit einem starkes Streben ausgestattet, das ihn über sich hinausträgt. Eine Reduktion seiner Einzigartigkeit hin zu einer möglichen Gemeinsamkeit, denn der Mensch ist nicht nur auf Isolation und Angriff, sondern wesentlich auch auf Kooperation ausgerichtet und angewiesen. Im Zusammensein mit anderen fühlt er sich zugehörig und geborgen. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, sein Wissen von anderen Menschen zu erweitern und ihnen näher zu kommen.

Diese Offenheit bietet ihm Alternativen: Er kann mehr zum Geselligkeitstyp oder mehr zum Einzelgänger tendieren; er kann allein oder mit anderen sein; er kann inmitten anderer für sich sein; er kann aber auch mit anderen sein, ohne deren leibliche Anwesenheit.


IV. Geselligkeitstyp und Einzelgänger


Als Einzelwesen findet der Mensch Nähe in sich. Er ist sozial selbstgenügsam und grenzt sich ab. Ein Einzelgänger geht seinen eigenen Weg. Vielleicht aus Extravaganz oder um der Pflege einer besonderen Fertigkeit willen, vielleicht auch aus Enttäuschung oder aus Unfähigkeit, Beziehungen herzustellen. Daher genügt er sich selbst. Bevorzugte Aufenthaltsräume sind Dachstuben, Buchten, Berge, leere Strände und die Einsamkeit der Natur. Der Einzelgänger muss sich nicht unwohl befinden: Er kann sich geborgen fühlen und allein und für sich sein, ohne sich einsam zu fühlen. Auch muss das Einzelgängertum kein Bekenntnis gegen Geselligkeit sein. Er braucht aber Vertrauen zu sich selbst. Der Einzelgänger respektiert die Regeln der Gemeinschaft, misst ihnen aber wenig Bedeutung zu.

Als Geselligkeitswesen findet der Mensch Nähe in anderen. Mit Macht strebt er aus der Welt der Familie hinaus in größere soziale Verbände. Er sucht das Zusammensein mit anderen. Da er aber grundsätzlich auch ein Einzelwesen ist, bedeutet das, dass er Vertrauen zu sich und zugleich zu anderen braucht. Der Geselligkeitstyp spürt, dass ihm nichts besseres widerfahren kann als das Gefühl, Partnern trauen zu können, denn Vertrauen führt zu Sicherheit und zur Freude an gemeinsamer Aktivität.

Jede Gesellschaft gibt sich für ein gelingendes Zusammenleben moralische Regeln, um aus Einzelgängern Menschen zu machen, die sich bewusst zu ihrer Kultur und Gesellschaft sowie zu ihren Mitmenschen bekennen. In der Absprache entwickelt sie besondere Formen der Kommunikation und Anteilnahme, der Information und Teilhabe, schafft aber auch Regeln wie „Du sollst gehorsam, Du sollst fair sein“ und „Du sollst nicht töten“. Die gemeinsam erarbeiteten und respektierten Regeln sind es, die der Gemeinschaft Halt geben und Anlass sind für Gefühle der Zugehörigkeit und des Wohlbefindens.


V. Das Gemeinsame im Zeitalter der Information


In modernen Gesellschaften sind Kommunikation und Gemeinsamkeit Schlüsselbegriffe. Die Möglichkeit, Gemeinsames zu erfahren, unterliegt einem permanenten Wandel. Über Mobiltelefon und Internet kann das Gemeinsame rasch mitgeteilt und durch moderne Transportmöglichkeiten schnell realisiert werden. Das Teilen von Gemeinsamkeiten ist bereits auf Rechnern, Mobiltelefonen und Tablets vorformatiert. Ein Anliegen kann über einen Button „Teilen“ an Facebook, Twitter, Blog und andere Portale sofort mitgeteilt werden. Der Austausch von Informationen, das Realisieren von Begegnungen und das gemeinsame Erarbeiten von Projekten ist so schnell, einfach und weltweit möglich geworden, dass das Leben die Form einer permanenten realen und virtuellen Passage angenommen hat. Bekannt ist, dass dies viele Menschen geistig, psychisch und sozial irritiert und gelegentlich entwurzelt, aber auch begeistert und beruhigt.

Das Gemeinsame drückt sich in unterschiedlicher Weise aus. Sprachlich in ko und kom, in col und con, in sim und syn, gestisch im Gruß und Kuss, dinglich in Objekten wie Buch, Bank und Konzertsaal sowie in Phänomenen wie Tradition, Kultur, Wissen und Technik. Die Phänomene Wissen und Technik sind es, die die Menschen aller Regionen der Erde unter dem Stichwort Globalisierung einander räumlich und kulturell näher gebracht haben, was dazu geführt hat, dass sich viele Kulturen erst einmal auf eine größere Distanz abstoßen müssen.

Globalisierung ist ein Prozess der Erkenntnis, dass alle Menschen zusammengehören und ihre Gemeinsamkeiten – unter den Bedingungen einer kulturellen Differenz – zu akzeptieren sind. Dass Zugehörigkeit Vertrauen und Sicherheit gibt, gilt für die kleinste Zelle der Gemeinsamkeit – die Familie – ebenso wie für die Sippe, das Reich und die Nation. Aber auch für die größte Zelle der Gemeinsamkeit – die Menschheit.

VI. Globalität – die äußerste Form der Gemeinsamkeit

Globalisierung ist kein modernes Phänomen, sondern so alt wie die Menschheit. Die Geschichte der Menschen ist der Prozess der Globalisierung. Menschen haben Verstand und Gedächtnis, geschickte Hände und ein vermögendes Gehirn, sie kommunizieren leidenschaftlich, haben Bewusstsein und erweitern unaufhörlich ihr Wissen und ihre Fertigkeiten, durch die sie permanent Möglichkeiten verwirklichen, die als Technik gewaltige Wirkungen hervorrufen. Da sie zugleich tradierende Wesen sind, geben sie ihr Denken und Fühlen, ihr Handeln und ihre Kulturtechniken an nachfolgende Generationen weiter. Sie führen auch Krieg mit anderen Kulturen, kooperieren aber auch mit ihnen und lernen voneinander. Wie könnte es da anders sein, als dass sich kleine Sippen und Stämme zu immer größeren Einheiten zusammenschließen?

Schon früh haben die Menschen angefangen, unterschiedliche Netze anzulegen – Verkehrswege und Verbreitungspfade für religiöse Ideen, Militärstraßen, Wissensströme und Geldflüsse, Kulturaustausch und Techniktransfers, das World Wide Web in der hochtechnisierten Welt des 21. Jahrhunderts.

Das Phänomen der Globalisierung ist spät erkannt worden: So ist die aktuelle Weltlage gekennzeichnet durch die Entdeckung, dass die Menschen eine einzige Gemeinschaft – die Weltgemeinschaft – bilden, sowie durch das Bemühen, Wege zu finden, wie die Menschen ihre kulturellen Differenzen zugunsten dieser Einheit relativieren können. Der aktuelle Moment der Globalisierung ist die größte Herausforderung, die der Mensch je zu bestehen hatte.

Der Abschluss der Globalisierung ist die Globalität. Die bessere Gewichtung der Gemeinsamkeiten durch einen freien und fairen Handel und durch den Kulturaustausch der unterschiedlichen Weltbilder und Weltregionen. Globalität bedeutet das Tolerieren von Unterschieden, das Begreifen von der Zusammengehörigkeit aller Menschen und das Entwickeln einer Weltgemeinschaft. Viele Menschen haben erkannt, dass gute Luft, genießbares Wasser und die Bio-Masse der Erde begrenzt sind, und fangen an, sich Gedanken über die Welt und das Ganze des Seins zu machen – über die gemeinsame Basis aller Menschen.


VII. Orte geselliger Ruhe


Menschen suchen Halt. Auch körperlich. Durch Geräte und Werkzeuge, die symbolische Funktion haben und Ruhe in die Geselligkeit bringen sollen.

Der Thron ist für den Einen – für Gott, König und Papst. Er dient ihrer Präsentation von Würde und Macht sowie ihrer Vergeistigung. Auch der Hocker dient einer Person. Zuerst ist es der Falthocker des Feldherrn, der im Christentum zum Thron für den Papst wird. Indem Adlige das Sitzprivileg erhalten, tauchen an königlichen Höfen massenhaft Hocker unter dem Namen Tabouret auf, von denen es in Versailles zur Zeit Ludwigs XIV. etwa tausenddreihundert gab. Die Bedeutung, die ein Adliger für den Hof hatte, legte präzise fest, welchen Hocker er in welcher Situation besetzen durfte.

Kissen, Teppiche und niedere Bänke dienen der Stützung einer unterschiedlicher Meditationshaltungen, die bei der Konzentration, Entspannung und Entleerung des Geistes helfen sollen.

Der Stuhl als Verweltlichung des geweihten Throns dient unterschiedlichsten Tätigkeiten bei der Arbeit und in der Freizeit. Der erste, in großen Stückzahlen herstellbare Stuhl ist der Wiener Kaffeehaus-Stuhl. Hergestellt Seit 1859 gibt er in den entstehenden Kaffeehäusern europäischer Großstädte den Bürgern einen Ort für ihre ersten politischen Diskussionen im öffentlichen Raum.

Die Bank ist eine Vervielfachung des Stuhls. Sie beginnt ihre Karriere als Bank der Mönche im zehnten Jahrhundert. Nach ihnen nutzen die Höfe Bänke für ihre großen Festtage, um hunderte von Adligen zum gemeinsamen Speisen und Trinken an den Tischen geordnet zu versammeln. Nach der Reformation statten die Protestanten die Kirchen – bis dahin unbestuhlt – mit Bänken aus. Von hier übernehmen Schulen die Ordnung gebende Kraft der Bank. Am Ende gibt es Bänke für Massenversammlungen in Sportarenen und Bierzelten sowie bei Großveranstaltungen, aber auch in Wäldern und Parks, an Seen und Stränden sowie an Autobahnen und in Gebirgen sind sie aufgestellt. Im Wohnbereich heißt die Bank Sofa, Couch und Kanapee Das typische Umfeld der Bank – ihr Biotop – ist der Park.


 

© Hajo Eickhoff 2014





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