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Der lange Weg zum Plastik-Stuhl


Kleine Kulturgeschichte des Sitzens

 

 

 

Gutes Design ist für die Ewigkeit.

Alessandro Alessi

Der Thron

Moderne Gesellschaften sind Sitzgesellschaften. Ihr technologischer Fortschritt findet im Sitzen statt. Wobei Technisierung und Digitalisierung des Lebens die körperliche Bewegung des Menschen auf die Bedienung von Hebel, Tastatur und Maus reduzieren. Heute erscheint Sitzen alltäglich und banal, ist aber in ungewöhnlichen Zusammenhängen entstanden. Denn neben dem Werkzeug-Charakter mit all seinen ergonomischen Aspekten schwingt in jedem Stuhl eine Kulturgeschichte mit, ohne dass sich die Menschen dessen bewusst sind.

 Der Stuhl beginnt als Thron. Und der Sitzende als König. Thron und König haben eine gemeinsame Geschichte – die Entwicklung von einem geweihten Objekt – dem Thron – zum Alltagsstuhl, und vom Thronen – der Geste der Macht – zum nichtgeweihten Alltagssitzen.

 Der König ist eine archaische Gestalt, die einer Gemeinschaft Struktur gibt – Mitte, Richtung und Wert. Er gilt als unantastbar, Einheit stiftend und mächtig. Er kann der geistige Führer einer Gemeinschaft wie ein Stamm, ein Reich und eine Nation sein, oder ein religiöses Oberhaupt, ein politischer Herrscher oder Heerführer.

 Der Thron ist ein archaisches Objekt, das Struktur schafft. Ein Gestell, das den König an einen Ort bindet. Eine Besonderheit bietet der Thron der Sesshaften. Er hat eine unterschenkelhohe Sitzebene, zwingt den Thronenden in eine aufrechte Sitzhaltung und macht eine Hierarchie anschaulich – eine heilige Ordnung von Oben und Unten, von Göttlich und Menschlich, von Ohnmacht und Macht.

 König und Thron repräsentieren jeder für sich Struktur und Einheit. Doch erst ihre Kombination zum König auf dem Thron entfaltet den ganzen Reichtum an Wirkungen und Bedeutungen – der König auf dem Thron ist ein Zeichen für Erhabenheit und Autorität sowie ein Symbol, das Himmel und Erde verbindet.

 Der König ist die Imitation der Tonskulptur einer weiblichen Gottheit, die in Hockhaltung gebärt und von zwei Löwen flankiert wird. Aus der Skulptur sind die ägyptischen Throne abgeleitet, die wiederum Vorbild sind für andere Throne und für Stühle.

 Der Thron selbst geht aus dem Opferstein hervor. Dem zentralen Abschnitt eines geweih­ten Bezirks, auf dem archaische Gemeinschaften Menschen opfern. Mit der Idee, anstelle des Menschen ein Tier zu töten, zerfällt der Opferstein in die Elemente Opferstuhl und Opfertisch. Erhöht (alta) wird der Tisch (ara) zum Altar, die Basis für das Opfertier, der Opferstuhl wird der Thron. Auf dem Thron bleibt der auf dem Opferstein einst dem Tod Geweihte am Leben – sein Opfer liegt in der Untätigkeit infolge des Sitzens. Der Gewinn, den eine Gemeinschaft aus dem Thron zog, liegt darin, dass der König in der physischen Begrenzung spirituelle Fähigkeiten ausbildet und der Gemeinschaft ein permanentes Opfer bietet.

 Der Thron, auf dem der König aufrecht sitzt, entspringt mit dem Hausbau, mit dem der Mensch einen Teil aus dem Kosmos heraustrennt und sich von den himmlischen Mächten separiert, indem er einen eigenen, verkleinerten Kosmos schafft, der ihm ein Stück Autonomie gibt. Den dadurch entstandenen Frevel zu mildern dient der Thron. Der gesetzte König kann nur überleben, wenn es ihm gelingt, sich nach innen zu wenden und in sich eine geistige Landschaft auszubilden, in der er seine Energie verausgaben kann. Dazu muss er Muskulatur und Atmung kontrollieren, die eine Vergeistigung einleiten und dem Gemeinwesen den Zugang zum Himmel wieder öffnet, den Dach und Wände infolge des Hausbaus verschließen. Infolge der kulturellen Formung durch das Sitzen wird der thronende König zum Wissenden, da er um die eigenen inneren Regungen und Motive weiß und einfühlend auch um die der anderen Stammesmitglieder, was ihn zu einem Weisen und frühen Therapeuten macht.

 Im Alltag antiker Kulturen spielen Sitze keine Rolle. Heutige Stühle sind Alltagsstühle. Aus Griechenland sind Sitze nur von der Vasenmalerei bekannt. Ob es diese Stühle tatsächlich gab, ist unbekannt, denn erhalten sind nur Theaterbänke aus Stein. Im antiken Rom gibt es Senatorensitze und den Kaiserthron, die Sella curulis, den die Christen zum Heiligen Stuhl oder Papstthron machen. Im 10. Jahrhundert übernehmen Mönche die geweihte Haltung des Thronens und entwickeln das Chorgestühl, denn nach der Ordensregel des Benedikt von Nursia aus dem sechsten Jahrhundert sollen sie an einem begrenzten Ort Knien, Stehen, Stehsitzen und Sitzen. Nach der zahlenmäßigen Ausweitung des Thronens durch die Klöster erhalten Vorsteher der Zünfte und Gilden, wohlhabende Kaufleute und einflussreiche Regierungsherren der Rathäuser Anrecht auf einen Sitz innerhalb des Langschiffes der Kirche, das den Übergang vom Thron zum Alltagsstuhl einleitet.

  

Der Stuhl

Das Stuhlsitzen im Alltag ist eine Erfindung Europas: Das europäische Bürgertum der Renaissance hat den geweihten Königsthron in ein nicht geweihtes, Objekt gewandelt – in den Profanstuhl, den Alltagssitz. Zunächst ein Objekt der bürgerlichen Oberschicht, erkämpfen nach und nach alle bürgerlichen Schichten das Sitzrecht: Nach einer dreihundert Jahre währenden Auseinandersetzung erhält jeder Bürger das Recht auf einen Stuhl. Das Sitzprivileg fällt in der Französischen Revolution. Die Entwicklung vom Königsthron über den Papstthron und das Chorgestühl zum bürgerlichen Alltagstuhl ist die Demokratisierung eines Königsprinzips.

Der Clou bürgerlichen Sitzens ist die Kombination des Stuhls mit dem Tisch. Sie bilden eine hocheffiziente Arbeits- und Haltungseinheit sowie eine mächtige Produktivkraft, die den Tisch zum Mittelpunkt des Hauses, der Familie und der beruflichen Tätigkeit macht. Der Tisch ist die fruchtbare Ebene, der moderne Acker und das Zentrum der bürgerlichen Kommunikation. Auf ihm streuen die Bürger die Saat von Wissen und Technik, von Können und Technologie aus und machen den Tisch zum Knotenpunkt strategischer Netze.

 Seit der Neuzeit bilden Tisch und Stuhl – wie beim archaischen Opferstein – wieder eine zupackende Einheit, die sich in die Körper einschreibt. Diese Einheit aufeinander abzustimmen ist Aufgabe der Schule, in der Kinder allmählich in den Stuhl hineinwachsen und den Umgang mit abstrakten Gedanken und logischen Operationen erwerben, indem sie das partielle Ausblenden der Sinnesreize trainieren. Der Mechanismus, der Tisch und Stuhl solche Wirkungen verleiht, sind Muskelanspannung und Atemreduktion. Er liegt darin, dass sich beim Hinsetzen die Skelettmuskeln anspannen, das Becken nach hinten kippt und die natürliche Biegung der Lendenwirbelsäule abflacht. Die Beweglichkeit des Sitzenden reduziert sich, die Muskeln verhärten chronisch und die Atmung wird herabgesetzt, bis der Körper für große geistige, körperliche und emotionale Aktivitäten nicht mehr über genug Energie verfügt. Gleichzeitig wirken Muskulatur und Atmung aufeinander: Das flache Atmen spannt die Muskeln und macht sie hart, während angespannte Muskeln die Atmung redu­ziert, die die Muskeln weiter anspannt, so dass Atemtätigkeit und Muskelbewegung in einen Kreislauf gegenseitigen Reduzierens und Verhärtens münden, bis sich eine Unlust zur Bewegung einstellt und der Mensch in der Sitzgesellschaft von einer inneren Struktur her Sitzender, Homo sedens wird. Deshalb kann der Schriftsteller Fernando Pessoa, zeitlebens auch Buchhalter, sagen: „Ich gehe über die Straße wie ein Sitzender.“

 Das sitzen ist um 1800 zwar gesellschaftlich akzeptiert, aber es fehlt ein Stuhltyp, der jedem Bürger zu erwerben möglich ist. Der Kunsttischler Michael Thonet ist derjenige, der diesen Stuhltyp mit Hilfe eines neuen Fertigungsverfahrens – dem Biegen von Buchenholz – entwickelt, mit dem er seit 1859 einen Stuhl in Serie fertigen lässt: den Wiener Kaffehaus-Stuhl. Ein Massenprodukt, von dem in den folgenden Jahrzehnten jährlich fast eine Million Exemplare produziert und in alle Welt versandt werden. Dieser preiswerte Stuhl ist leicht, für viele bezahlbar und erinnert vor allem nicht an adlige Vorbilder, sondern ist ein reiner Bürgerstuhl. Er leitet die Kaffeehaus-Kultur ein, die den Bürgern ein spezieller Sitz-Ort der politischen Diskussion im öffentlichen Raum wird.

 Geht es zunächst darum, jeden Bürger in den Besitz eines Stuhles zu bringen, stehen modernen Menschen mehr als drei Dutzend Sitze zur potenziellen Nutzung zur Verfügung, denn in Sitzgesellschaften stehen Stühle überall herum – und harren der Besetzung.

 Mit der Entwicklung der Industrie werden Stühle immer häufiger bei der Fabrikarbeit und bei der Arbeit im Büro verwendet. Da sich der Stuhl rasch als Objekt erweist, das die Sitzenden belastet, beginnen Orthopäden, das Sitzen des Menschen wissenschaftlich zu analysieren, um den Stuhl dem Menschen anzupassen. Das erste Produkt ist der Staffelstuhl aus dem Jahr 1884. Orthopäden experimentieren entweder mit der Sitzebene oder mit der Rückenlehne, bis sie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Sitzebene und Rücklehne als Einheit erkannt und aufeinander bezogen werden. Heute sind Berufsstühle meist Hightech-Equipment mit Schaltern und Hebeln, mit Knöpfen und computergesteuerten Motoren.

 Doch weder in Alltagssitzen noch in Arbeitsstühlen gelingt es Sitzenden, die im Stuhl liegenden Möglichkeiten zu nutzen wie Könige: Dazu müssen sie das Sitzen zu etwas Besonderem und Erhabenem machen – zum Sinn gebenden Ritual mit hohem ästhetischen, moralischen und spirituellen Wert. Das erfordert Haltungswechsel, damit Körper und Geist in Balance kommen. Es ist Zeit, dem Körper die Freiheit zu geben – sich zu halten – stehend, gehend, sitzend und hockend wie er will und kann.

 

Plastikstühle

Die Entwicklung vom Thron zum Stuhl findet ihren Niederschlag auch im Material und im Design. Die Materialgeschichte verläuft von Holz und Stein über Stahl zu Plastik, die Designgeschichte von klassisch-antiken Vorbildern über die Idee des Arts-and-Craft, das Art Deco, den Funktionalismus und die Popart, über Memphis bis hin zu den unterschiedlichen Stilen und Stillosigkeiten der Gegenwart. Für das Stuhldesign ist nach dem Thonet-Stuhl der Holzstuhl Blue-Red des holländischen Architekten Gerrit Rietveld von 1923 ein Wendepunkt. Marcel Breuer stellt 1925 im Bauhaus den ersten Stahlrohrstuhl Wassily vor und Mies van der Rohe 1927 den ersten Freischwinger aus Stahl.

Das Material des 20. Jahrhunderts ist Kunststoff. Leo Hendrik Baekeland entwickelt 1907 den Kunststoff Bakelit. Ein harter und spröder Stoff. Doch als bahnbrechend für die Stuhlproduktion erweisen sich erst die widerstandsfähigen und elastischen Kunststoffe wie Polyester, Fiberglas, Polysterol, Plexiglas und Polyurethan, mit denen in den USA nach dem zweiten Weltkrieg experimentiert wird. Die Designer Charles und Ray Eames entwerfen 1950 die erste Fiberglas-Sitzschale, die allerdings noch von einem Gerüst aus Stahl getragen wird. Erst mit der Entwicklung von Polypropylen im Jahr 1963 entfaltet Kunststoff sein enormes Gestaltungsvermögen, das erlaubt, Stühle nur aus Kunststoff zu fertigen.

 Vorlieben für Material sind auch regional bedingt – Gestalter des Bauhauses experimentieren mit Stahlrohr, Designer des Nordens mit verklebten Holzschichten und italienische Designer mit Kunststoff, der ihnen als Triumph des Fortschritts erscheint. In der Stuhlproduktion verwenden Designer aus Europa erst in den sechziger Jahren Kunststoff. Sie orientieren sich nicht an ergonomischen Vorgaben, sondern am Spiel der Formen und den Möglichkeiten des Materials. Der Bofinger-Stuhl von Helmut Bätzner von 1966 besteht aus fiberglasverstärktem Polyester und wird bereits aus einem Stück gefertigt. Die Herstellung dauert vier Minuten und das Produkt bedarf keiner Nachbehandlung. Aus demselben Material besteht der kühne Entwurf des Tulip-Chair, für den Eero Saarinen 1968 den internationalen Designpreis erhält. Ein Jahr zuvor entwirft Vico Magistretti den Sitz Selene und Joe Colombo entwickelt im Druckziehverfahren den Plastikstuhl Universale, der das Verhältnis von Funktion, Material und Form offenbart. Eine Öffnung in der Rücklehne dient dem Herausnehmen des Stuhls aus der Gussform, die Verengung des Sitzes vor den Hinterbeinen macht den Stuhl stapelbar und die seitliche Abflachung der Beine erlaubt die Reihung der Stühle. Fertigungsbedingt werden Stuhlbeine und Sitz für sich gefertigt. Die Gestalter, die früh mit Kunststoff arbeiten sowie Deseigner der Popart geben dem Material ein gutes Design.

 Nach der Ölkrise 1972 geht die Kunststoffproduktion zurück. Erdöl wird teuer und viele Unternehmen entscheiden sich für andere Rohstoffe. In den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts startet Europa einen zweiten Versuch, mit Gartenstühlen aus Plastik das Sitzen weltweit zu etablieren – hergestellt aus einem Stück Kunststoff – dem Mono-Block. Der Stuhl wird nicht millionenfach in einigen Jahrzehnten produziert wie der Wiener Kaffeehaus-Stuhl – mit ihm geht es um Milliarden in wenigen Jahren.

 Polypropylen und andere Kunststoffe werden im Spritzguss-Verfahren unter Druck und bei 220 Grad Celsius in Stuhlform gepresst. Ein einfaches Verfahren, ein einziges Material, stapelbar und so teuer wie zwei Brote. Das macht ihn zum globalen Stuhl par excellence. Deshalb ist er heute überall auf der Erde zu finden: in Straßencafés und privaten Räumen, in Gartenrestaurants, auf Großveranstaltungen wie Konzerten oder auf Kirchentagen, aufgestellt zu tausenden und zehntausenden. Auch in Wüsten, Hochgebirgen oder Urwäldern ist er heimisch.

 Eine Verbindung aus Kunststoff und gutem Design wird erst im 21. Jahrhundert wieder aktuell. Der Designer Konstantin Grcic hat gemeinsam mit der BASF und dem italienischen Möbelhersteller Plank die Herausforderung angenommen, den ersten Freischwinger aus Vollkunststoff zu entwickeln – den Myto aus Ultradur High Speed, entstanden 2007.

 Kunststoffstühle wie der Monoblock sind kein Equipment für das Arbeitssitzen und keiner Ergonomie verpflichtet – was ein Vorteil ist, wenn sie Haltungswechsel veranlassen –, aber sie sollten an die anspruchsvolle Form, das gute Design der Popart-Stühle anknüpfen oder an wertvolle Entwürfe und Produkte wie den Myto, denn die Nachhaltigkeit der Kunststoffprodukte liegt im Wert ihres Designs, das selbst das Sitzen auf einem Kunststoffstuhl zum Kult machen kann.

  

  


© Hajo Eickhoff 2010




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