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aus: Das Büro – Magazin für Office-Excellence, Sept. 2015, Nr. 4, Okt. 2015, Nr. 5, Dez./Jan./Febr. 2015/2016, Nr.6.


 


Die Geschichte des Tisches




Teil 1: 


Seine Entstehung


Auch wenn heute manch einer sein Smartphone für ein komplettes Büro hält, ohne einen Tisch ist gute Büroarbeit nur schwer vorstellbar. Der Historiker und Buchautor Hajo Eickhoff erzählt die Kulturgeschichte dieses Möbeln in drei Teilen.



Ohne den Tisch gäbe es keine moderne Welt. Wie sollte der Mensch arbeiten und wie speisen? Wie sähen Schulen und Cafés aus? Und gäbe es Flugzeuge und Büros? Wie hätte sich der Mensch diszipliniert und welche Haltung nähme er vor dem Computer – den es gar nicht geben würde – ein?


Tische sind Möbel. Ihr Wesen ist eine waagerechte, durch ein Gestell vom Boden angehobene Ebene. Der Mensch hat vier Möbel erfunden: Tisch, Schrank, Stuhl und Bett. Möbel sind Variationen der Horizontalen, die sich durch ihre Größe und ihre Distanz zum Erdboden unterscheiden. Die kultivierende Kraft der Möbel liegt in ihrer Wirkung auf Muskeln und Sinnesorgane, die das Empfinden, Denken und Verhalten prägen. Etappen vom Erdboden zum heutigen Tisch sind Fell, Teppich, Tablett und niederer Tisch.


Die Geburt des Tisches


Zu Jägern und Sammlern passen keine Tische. Da sie ständig zu Fuß unterwegs sind, beginnt die Geschichte des Tisches erst mit der Sesshaftwerdung und der Erfindung des Hauses. Entstanden ist der Tisch zusammen mit dem Stuhl aus dem Opferstein, auf dem Menschen zum Zweck der Besänftigung der Götter getötetet wurden. Mit der Idee, anstelle eines Menschen ein Tier zu töten, zerfällt der Opferstein in die beiden Elemente Altar (Opfertisch) und Thron (Opferstuhl): Der Tisch wird die Basis für das Tier, der Thron das Gestell für einen Menschen, der zwar verschont und mit Macht ausgestattet, aber gewaltsam gesetzt wird. Im Verlauf ihrer Geschichte haben sich Altar und Thron unabhängig voneinander entwickelt, doch um 1500 wurden sie in Europa zu Tisch und Stuhl umgestaltet und zu einer kompakten Disziplinierungs-Einheit verbunden.


Das griechische Theater


Im Alltagsleben der Antike spielen Tische eine untergeordnete Rolle. Sie sind lediglich Objekte für besondere Anlässe. Das Wort Tisch leitet sich vom griechischen Wort diskos ab, weil Tische bei den Griechen rund wie die Wurfscheibe waren.


Das griechische Theater ist ein Fest zu Ehren des Gottes Dionysos. Im Zentrum der Bühne steht der Dionysos-Altar – die Thymele. Auf diesen setzt sich ein Schauspieler und bietet sich als Opfer dar. In der Thymele sind Tisch, Stuhl und Altar vereint.


Der Tisch der Christen


Die Christen setzen den Opferbrauch fort. Beim liegenden Speisen an niederen Tischen nutzen sie die Zusammenkünfte als Dankesfest (Eucharistie) und als Fest der Liebe (Agape). Immer wieder wird das Spei­sen durch das Vorlesen heiliger Texte und das Segnen der Speisen durch die Ältesten unterbrochen, die sich nach und nach von den Jüngeren und den Frauen absetzen, bis sie die Zusammenkünfte auf den Sonntagmor­gen verlegen und Agape und Eucharistie getrennt zelebrieren. Damit heben sie die Einheit des gemeinsamen abendlichen Speisens auf, wenn auch der Name Abendmahl für den morgendlichen Gottesdienst beibehalten wird. Die Distanz von Klerus und Laien offenbart sich in den frühen Kirchen durch die enorme Länge des Mittelschiffes, das einen Prozessionsweg hin zum Tisch eröffnet. Der Opfer­tisch überbrückt die extreme Spanne zwischen Gemeinde und Klerus und macht den Tisch (Altar) zur kultischen Mitte der Christenheit.


Auch Mythen und das königliche Hofleben setzen die Funktion des Tisches als Basis für die Opfergaben fort. In der Artussage versammelt der runde Tisch die Ritter, bei Festtagen am Hof versammeln rechteckige Tische die Adligen. Der König sitzt am Kopfende oder in der Mitte der Längsseite. Die Ränge nahmen zu beiden Seiten ab. Die Instanz, die für ei­nen geordneten Ablauf an der vornehmen Speiseta­fel sorgt – das Zuweisen der Plätze und das Kredenzen der Speisen und Getränke – ist der Truch­sess, dessen Arbeit ein Höchstmaß an Einfühlung er­fordert. da die Plätze dem Rang der Personen zugeordnet sind.


In mittelalterlichen Häusern gibt es keine Tische. Nur die aus zwei Holzböcken und einer Tür bestehende Tafel, die rasch aufgestellt und am Ende des Speises wieder aufgehoben werden.



 

Teil 2:


Neuzeitliche Varianten


 

Mit dem Aufstieg des Bürgertums zur wirtschaftlich und politisch herrschenden Klasse wird der Tisch zur maßgebenden Ordnungseinheit. Zugleich zieht der Tisch den Stuhl an, durch den die bürgerliche Oberschicht die Herrschaftsgeste des Thronens am Tisch übernimmt. Tisch und Stuhl werden zu einer kompakten Einheit verbunden, die die Ideale unseres heutigen Wohnens und Arbeitens vorbereitet.


Vier Tischtypen


In der Zeit der Renaissance fördert der Tisch die neue Ordnung für Arbeit, Politik und Kultur, indem das Bürgertum die uns heute bekannten, nach der Form der Untergestelle benannten vier Tischtypen entwickelt – Wangen-, Bock-, Zargen- und Säulentisch.


Beim Wangentisch stützen – verbunden durch ein breites Querholz – zwei vertikale Bretter, beim Bocktisch zwei Böcke und beim Zargentisch vier Beine, die in einen festen Rahmen eigearbeitet sind, die Tischplatte. Säulentische halten die Tischplatte durch eine mittige Säule. Der effektivste Tisch ist der Zargentisch. Die Zarge – das Mittelglied zwischen Tischplatte und Unterbau – bewirkt eine hohe Standfestigkeit und ermöglicht eine große Vielfalt.


Vom Nutzen des Tisches


Infolge der bürgerlichen Arbeit und des wirtschaftlichen Wachstums werden neue Werkzeuge erfunden, entstehen neue Methoden, neue Berufe etabliert, der Arbeit angemessene Räume gestaltet und der Schriftverkehr erhöht. Das ruft nach neuen Auf- und Abllageflächen – den Tischen. So entstehen Werkbänke und Bürotische, in deren Folge die gegenwärtigen Tische der Büroarbeit und Werksarbeit entwickelt werden.


Das bürgerliche Wohnen findet bis 1700 am Herd in der Küche eine symbolische Mitte. Hier ist man nah bei­einander und ständig in Bewegung. Dann büßt die Küche ihre zentrale Stellung ein, wird bloßer Nutzraum und an die Stelle des Herdes tritt der Esstisch in der Wohnstube. Der Tisch wird der Ort, an dem man äußerlich zusammenkommt und sich innerlich sammelt. Die Verlagerung vom Herd an den Esstisch geht einher mit einer Veränderung der Körperhaltung vom Stehen und Hocken zum Sitzen auf Stühlen. Der Tisch versammelt die Sitzenden und die Stühle isolieren durch ihren Rahmen die Sitzenden gegeneinander und vermin­dern den engen leiblichen Kontakt. Das gemeinsame Essen am Wohnzimmer­tisch erhöht das Maß an Disziplin und bringt eine neue Form bürgerlicher Privatheit hervor.


Was als höfisches Verhalten beginnt und als Arbeits- und Freizeitordnung weiterentwickelt wird, endet um 1800 als Standard der Bürgerlichkeit, indem alle Lebensräume mit Tischen ausgestattet werden.


Die Effektivität des Tisches


Im 18. Jahrhundert entsteht die Schulbank. In ihr sind Sitz und Tisch fest zusammenfügt. In ihr begrenzen die Leibeshaltung (Sitzen) und das Tun (Schreiben) die kindliche Vitalität und Beweglichkeit von zwei Seiten her: vom Sitz und vom Tisch. Das Schreiben erfordert ein Höchstmaß an Disziplin. Das Kind schreibt oder ritzt Buchstabe neben Buch­stabe, setzt Zeile unter Zeiled und schreitet auf der Unterlage linear voran. Es ist stillgesetzt, gespannt und gebannt am Tisch, bewegt sich aber in ande­ren Medien weiter: im Medium des Schreibens (und Lesens) und im Medi­um der sich damit einstellenden Form des Denkens, seiner linearen Klug­heit. Sitzen auf der Bank und Schreiben am Tisch werden rasch zu den zwei charakteristischen Fertigkeiten, die in der Schule eingeübt werden. Was man dabei dem kindlichen Bewegungsdrang vorenthält, soll sich zu einer geistigen Freiheit entwickeln, sodass bei der Formung des Menschen zum zivilen Wesen Tisch und Stuhl zusammenarbeiten.


Mit der Differenzierung der Arbeit, der Wandlung im Privatbereich, den neuen Formen der Schulbildung sowie dem, was man unter Zivilheit versteht, spezialisiert sich der Tisch und nimmt in der Folge vielseitigste Formen an.


 


Teil 3:



Moderne Modelle


Ohne einen Tisch ist gute Büroarbeit nur schwer vorstellbar. Der Historiker und Buchautor Hajo Eickhoff beendet seine kleine Kulturgeschichte dieses Möbels. An dessen Ende sieht er vorerst eine digitale Variante.


Das 18. Jahrhundert – der Beginn der Industrialisierung –  bevölkert die bürgerlichen Privat- und Arbeitsräume mit einer Fülle an Werkzeugen, Aufbewahrungsutensilien, Haushaltsgeräten, Schmuckgegenständen und Möbeln, die eine immense Nachfrage nach unterschiedlichsten Auflageflächen in Gang setzt.


Mit Tischen ordnen


Im Büro nimmt der Schriftverkehr so drastisch zu, dass Ordnen und Archivieren zu Grundprinzipien der rationale Büroarbeit werden. Die Tische werden zu Arbeitsflächen und zu Ebenen, die die Abläufe im Büro ordnen. Im Büro werden plane und großflächige Tische zur Norm. Sie lösen die Sekretäre des 18. Jahrhunderts – Tische mit Ungetümen aus Schubladenaufbauten – ab.


An den Tischen der Künstler und Wissenschaftler herrschen Ordnung und Weitsicht. Strindberg schreibt: „Ich habe eine Korrespondenz mit wissenschaftlichen Autoritäten in Paris, Berlin, St. Petersburg, Peking, Irkutsk begonnen, und an meinem Schreibtisch halte ich die Fäden zu einem Netz von Verbindungen, die sich über die gesamte Alte Welt erstrecken.“ Virginia Woolf formu­liert den großen Wert, den ein eigenes Zimmer mit Schreibtisch für eine Schrift­stellerin hat, und Franz Kafka benennt seine Angst, den Stuhl am Schreibtisch als sicheren Hort und Hafen für eine kurze Reise verlassen zu müssen.


Der Schanktisch


In Gaststätten und Trinkhal­len entwickelt sich ein einfacher Tischtyp, der das Leben in der Stadt nachhaltig beeinflusst hat: der Schanktisch – Theke oder Tresen –, an dem man direkten Kontakt mit dem Gastwirt pflegt. Zunächst gehören die Ladentische der Geschäfte und die Speiseti­sche der Gaststuben der privaten und öf­fentlichen Sphäre an. Seit dem Ein­zug des Tresens in die englischen Pubs um 1800 verliert die Gaststube ihre Privatheit. Die Auffas­sung, der Wirt sei immer noch der private Wirt des Gastes, steht im Ge­gensatz zur kommerziellen Bedeutung des Tresens.


Prüfungs- und Verhörsetting


In den modernen Prüfungen haben sich fein abgestimmte Maße und Konstellationen ausgebildet. Über seine Reifeprüfung schreibt Uwe Johnson: „Die Sitzbänke wurden herausgetragen, nun wurden Tische aufgestellt mit je ei­nem Stuhl. Der Abstand von einer Tischkante zur anderen betrug einen Meter und siebenundsiebzig Zentimeter.“


Verhöre sind besondere Formen der Prü­fung. Ein karger, fensterloser Raum sowie ein unscheinba­rer, kleiner Tisch mit Schreibutensilien sind seine ganze Ausstattung. Der Beschuldigte wird gesetzt, während der Fra­gesteller eine höhere Sitzposition einnimmt oder steht und seine Macht demonstrieret.


Der digitale Acker


Aus der Verarbeitung von Metall und Kunststoff entwickeln sich neben den traditionellen Tischtypen die Stahlrohrtische des Bauhauses, später aus Plastik gepresste Tische. Der Tisch ist das kompletteste Möbel, das potenziell die drei anderen Möbel Stuhl, Schrank und Bett enthält.


Am Ende aber erweist sich der Tisch wieder als Acker. Eine fruchtbare Ebene. Ein moderner Acker, der mit dem Stuhl die Basis moderner Arbeitsplätze bildet. Wie der Acker ist der Tisch Ordner, Speicher und Potenzial. Er stellt einen Weltbezug her, indem er die geistigen Kräfte, die der Sitzende auf dem Stuhl erwirbt, direkt am Tisch zur Wirkung bringt. Und so erweist sich das Sitzen am Tisch als gewaltigste Produktivkraft, die Europa geistigen und materiellen Reichtum gebracht und es auf eine hohe Kulturstufe emporgehoben hat.


Es gibt auch Aufstand gegen Unbeweglichkeit und Festsetzung: Das sind Stehpulte und höherverstellbare Tische, die den Wechsel von Stehen und Sitzen erlauben. Ebenso der tablet-Computer, ein überall einsetzbarer nahezu ortloser Tisch. Er liegt auf niederen oder hohen Tischen, auf Knien oder wird in einem Gestell oder in der Hand gehalten. Auf kleinstem Raum liegt mit ihm ein Werkzeug vor, mit dem sich insbesondere Büro-Arbeit beweglich, dynamisch und effektiv verrichten lässt – der Tisch des 21. Jahrhunderts.


 

© Hajo Eickhoff 2015/ 2016


 



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