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aus:  

 Schuhmacher-Chilla, Doris/ Wirxel, Julia, Maß oder Maßlosigkeit. Kunst und Kultur in der Gegenwart, Oberhausen 2007


Haus, Bild und Selbst

 

 

 Schönheit ist der Glanz der Ordnung.

Thomas von Aquin

 

1. Europa und die globale Herausforderung

Unter Kunstgeschichte verstehen Europäer die Geschichte der europäischen und modernen nordamerikanischen Kunst. Ein verengter Blick, der künstlerische Äußerungsformen anderer Kulturen unterschätzt und das Selbstverständnis begrenzt.

Die europäische Kunst ist dominant. Europäer betrachten die Kunst anderer Kulturen als Artefakte des Handwerks und der Rituale oder ordnen sie der Archäologie zu. Das Motto von Thomas von Aquin könnte auch „Schönheit ist der Glanz der europäischen Ordnung“ lauten, denn Europa setzt die kulturellen Maßstäbe. Doch Maße sind abhängige Elemente eines Systems, deren Bedeutung nur in den Grenzen der Definition dieses Systems gilt. Erst allmählich stellt Europa seine Dominanz und selbst auferlegte Isolation in Frage.

Die Bilder und die Struktur der gegenwärtigen Welt sind ein Ergebnis der europäischen Geschichte, wenn auch Europa Wissen und Können anderer Kulturen übernommen und zu eigenen Maßen gemacht hat. Von der Sesshaftwerdung in Mesopotamien ausgehend entwickelten sich Hochkulturen, die sich immer weiter nach Westen verlagerten: Mesopotamien, Ägypten und Judäa, Persien, Syrien und Griechenland, Nordafrika, Rom und Aachen. In Europa kam die Hochkultur für lange Zeit zur Ruhe, ehe sie Richtung Westen in Nordamerika ihren Ort fand.[1] Von da an verengten Europa und die USA und die von ihnen angeregten Kulturen die Vielfalt kultureller Möglichkeiten auf eine Dimension: den Aufbau einer von Technik bestimmten Welt. Die kulturellen Aktivitäten, initiiert durch Haus, Bild und Selbst wurden von Europa aus über die gesamte Erde verbreitet.

Globalisierung und Informationstechnik festigen durch Internet und andere Netzwerke die geistige und die bedingt ökonomische Vormacht Europas, zugleich aber untergraben sie seine Dominanz. Überall auf der Erde arbeiten Menschen daran, das Wissen zu einem Weltwissen zu vereinen, das Können zu einem Weltkönnen und unterschiedliche Glaubensrichtungen zu einer Ökumene. Sie arbeiten am Weltlexikon Wikipedia und an der Software Linux, messen ihre Leistungen auf internationalen Sportveranstaltungen oder führen die Kontinente übergreifende Konferenzen zu Politik, Klima und Wissenschaft durch. Auf Biennalen zeigt sich der Austausch der internationalen Kunstszene, wenn auch europäische Kunstinstitutionen wenig Möglichkeit bieten, Werke japanischer, afrikanischer, chinesischer oder südamerikanischer Kunst zu studieren. Dabei behindert die europäische Dominanz die Erkenntnis und Selbsterkenntnis, denn bei dem Entwurf einer Theorie der Kunst, dem Ergründen ihres Ursprungs oder der Erforschung der Prinzipien des Kunstschaffens kann der Bezugspunkt nur der Mensch sein – nicht der Europäer.

Diejenigen Künstler, die sich am globalen Diskurs sowohl der Kunst als auch der Philosophie und Politik beteiligen, werden die Erfinder neuer Maßstäbe sein. Sie wissen, was ihre Generation denkt und will oder haben dafür ein Gespür, ebenso wie für die abstrakte Ordnung des Globalen. Abstraktion ist das Beiseitelassen von Nebeneigenschaften, um das Wesentliche freizulegen. In der Abstraktion legt die Kunst den Fokus auf die Anschauung, die Philosophie auf die Begriffe und die Politik auf Macht und Kommunikation: So wird die Anschauung dieser Künstler nicht naiv, ihr Denken – auch das abstrakte – nicht ohne Anschauung und ihre Vorstellung von Politik nicht ohne Verbindlichkeit bleiben. Ein geeignetes Element des Politischen in der Kunst wäre die Übersetzbarkeit der Ausdrucksformen unterschiedlicher Kulturen unter Wahrung ihrer kulturellen Besonderheit, Eigenständigkeit und Einzigartigkeit.

Haus, Bild und Selbst sind die Elemente des Domus Europa. Daher liegt Europas Beitrag zur Globalisierung und zur Zukunft der Erde in einem dreifachen Lassen: im Vermeiden eines totalen Festgesetztseins, im gelassenen Umgang mit Bildern und in der Abkehr von der rigorosen Bestimmung des Selbst.

 

2. Kultur und Norm, Bild und Maß

Die Gründung einer Kultur bedeutet die Festsetzung neuer Maßstäbe. Normen, Strafen und Verbote werden für den Einzelnen verbindlich. Normen sind moralische Grundsätze, Strafen Maßnahmen der Erziehung und Verbote ursprünglich sakrale Tabus, die vom Profanen nicht angerührt werden dürfen. Kulturgründungen werden in Mythen legitimiert.

Mythen sind Bilder. Als Erzählungen bilden sie das Gedächtnis und spirituelle Zentrum einer Gemeinschaft. Erzählt wird von der Entstehung der Welt, vom Ursprung der Gemeinschaft und von heroischen Taten der Ahnen und deren Tod. Von tiefen und geheimnisvollen Verbindungen zwischen Menschen und Göttern ist die Rede und vom Verhältnis des Sinnlichen zum Übersinnlichen. Mythen dienen der Einordnung des Lebens in eine Sinnordnung: Was sich innerhalb der Gemeinschaft ereignet, soll sich nach der Logik des Mythos ereignen.

Bilder sind Maße. Gemäße Formen, Ordnungen, Gebilde. Wie es noch hervorgeht aus der Negativform Unbilden, dem Unrecht und der Unangemessenheit des Wetters. So geben sich Gemeinschaften in ihren Mythen Recht und Maß. Auf der Ebene der Gemeinschaft sind Mythen unmäßige, kollektive Vorbilder, Reflexe auf die äußere Welt und ihre Deutung. Als wirklich und wahr gilt, was durch sie ins Recht gesetzt ist. In rituellen Handlungen sollen sie das Kollektivgefühl festigen. Auf der Ebene des Einzelnen bilden Mythen das Gerüst des persönlichen Erkennens und Verhaltens: ein vorbegriffliches Verstehen (Stenger 2004, 119f) und ein Aneignen der Welt durch das Zusammenspiel von Nachahmung, Wiederholung und Erinnerung. Identität gewinnt der Einzelne im Rahmen der kollektiven Bilder.

Maße sind für Gemeinschaften Gesetze und ungeschriebene Vorschriften des Anstandes. Als Normen haben sie die Aufgabe, Gebote und Verbote zu vermitteln, um der Gemeinschaft ein angemessenes, rechtmäßiges Leben zu ermöglichen. Für Kulturen sind Maße Einheiten, durch die sie sich von anderen unterscheiden. Wenn Maße unterschiedlicher Kulturen unvergleichbar sind, bilden sie deren Grenzlinie. Für die Kunst sind Maße Form und Stil. Ohne Form – also Maß – gibt es keine Kunst.

Unmaße sind Grenzüberschreitungen. Sie liegen außerhalb des Rechts und offenbaren einen grundlegenden Mangel: das Fehlen von Kriterien – etwa der Bewertung. Deshalb beunruhigen Unmaße. Sie brechen mit alten Wahrnehmungsgewohnheiten und polarisieren die Gemeinschaft. Den Wächtern der Gemeinschaft obliegt es, ihre Verbreitung zu unterbinden und das unrechtmäßige Denken und Verhalten zu ahnden. Unmaße bringen das Neue, den neuen Blick auf die Gemeinschaft und die Welt zum Ausdruck und sind ein Ferment gesellschaftlicher Veränderungen und ein wesentliches, die Kultur entwickelndes Element.

 

3. Epoche als Maßstab der Geschichte

Kulturen entwickeln sich in Stufen. Etappenweise. Der Mensch, der im Alltag seinen Angelegenheiten nachgeht, lebt eingebunden in einen Kontext von Brauchtum, Sitte und Gewohnheit, die infolge veränderter Umweltbedingungen und der Zunahme an Wissen und Können einem beständigen Wandel unterliegen, der einen Wandel des Verhaltens und der Gewohnheit nach sich zieht. Jeder neue Kulturabschnitt beginnt mit Verletzungen, Tabubrüchen und Übertretungen tradierter Werte. Die Zeit vom Beginn bis zum Ende eines Kulturabschnitts ist eine Epoche, die das Bild und das Selbstverständnis einer historischen Zeit zeichnet.

Epochen sind Haltepunkte. Gleichförmigkeiten und Gleichmaße. Gliederungen der Geschichte und Zeiten der Kontinuität. Versuche, die komplexe Historie in geschlossene, sinnvolle Einheiten zu ordnen und ihr Maß und Einheit zu geben. Eine Epoche ist ein Zeitraum stabiler Diskurse mit einem definierten Kanon an Gesetzen, Formen und Vorlieben, in deren Rahmen die Kultur gepflegt und entfaltet wird.

Epochen sind Zeiten der Klassik. Ihre Produkte Klassiker, zeitlose Erzeugnisse mit Norm-Maßen. Sie stiften Kontinuität ­­­und sind nachfolgenden Generationen Richtschnur und Minimalforderung: Hinter einen Klassiker kann man nicht zurück. Er ist die Grundform, die dazu dient, das Typische und Beste einer Art zu bewahren. In der Kunstgeschichte ist Klassik eine Zeit ähnlicher Maßverhältnisse und wird nach den Kriterien von Art und Stil wie Hellenismus und Renaissance, Romantik und Moderne gegliedert. Wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und das Repertoire einer Kultur in Frage steht, geht die Epoche ihrem Ende entgegen.

Einer Epoche folgen Zeiten der Unruhe. Passagenzeiten. Epochenschwellen. Umwälzungen und Kulturumbrüche. Zeiten der Unsicherheit und des Mangels an Orientierung. Eine Zeit zwischen den Epochen ist ein Zeitraum instabiler Diskurse. In solchen Lebensabschnitten, in denen das Neue noch keine Reife hat und der Mensch sich nur bedingt an der Tradition orientieren kann, muss er neue Weisen des Denkens und Atmens, des Fühlens und Verhaltens ausbilden, um dem Leben das Bedrohliche zu nehmen. Die Geschichte der Kultur erweist sich so als eine Periodisierung von Maß, Unmaß, Maß oder von Klassik, Nichtklassik, Klassik.

Die Frage nach Maß oder Unmaß ist eine Frage nach der Gegenwart. Die gegenwärtige Welt ist eine Umbruchzeit, die selbst aus drei radikalen Kulturumbrüchen hervorgegangen ist, die den Gang der abendländischen Kultur maßgeblich gestaltet haben – die Sesshaftwerdung (Haus), das Bilderverbot und seine Überwindung (abendländische Kunst) und die Säkularisierung (Bestimmung des Selbst). Die drei Umbrüche geben ein Verständnis von der Gegenwart und liefern den Kontext, der erlaubt, Maß und Unmaß zu unterscheiden und zu deuten.

 

4. Das Haus als Maß der Gegenwart

Ein Ursprung der Gegenwart liegt in der Sesshaftwerdung und der Erfindung des Hauses. Sammler und Jäger hielten an, um an einem Ort zu bleiben und das enge Eingebundensein in das All zu lösen. Sesshaftwerdung ist Bewusstwerdung.

Das Haus ist ein Ursprung der Globalisierung. Ein Ort der Macht. Sammelnd und jagend lässt sich kein Gelände besetzen, ausdehnen und mit Macht ausstatten. Mit dem Haus entsteht ein fester Ort im All und die erste weithin sichtbare Gestalt menschlicher Kultur. Das Haus bietet dem Menschen ein fassliches Gegenüber – ein Anderes zur Natur. Ein humanes Gebilde und Geschöpf des Menschen. Es bremst den Bewegungsdrang und bringt den Menschen in einen Abstand zu sich selbst. Im Haus tritt sich der Mensch bewusst als Kulturwesen gegenüber. Von ihm ausgehend erkundete er das Gelände, eroberte das umliegende Territorium, drang in ferne Gebiete vor, gründete Großreiche und erschloss ganze Kontinente. Schließlich fasste er die Erde zu einem überschaubaren Ort zusammen und machte die Sesshaften zu Besitzern der Erde – des Globus. Vom lateinischen Wort für Haus, domus leiten sich etliche Begriffe von Herrschaft und Herrschaftsgebiet ab: Herr, Gebieter, Besitzer (dominus), Territorium (dominium), Wohnstätte (domicilium), herrschen (dominare), bezähmt (domesticus) oder überlegen, dominant (dominari).

Der Bau des Hauses war ein gewaltiger und zugleich gewalttätiger Akt. Die sesshaft werdenden Stämme mussten sich über Verbote und Tabus der eigenen Kultur des Jäger- und Sammlerdaseins hinwegsetzen. Die Gewalt lag in besonderen Formen des Opferns und in domestizierenden, kontrollierenden Eingriffen in den geistigen, emotionalen und leiblichen Haushalt des Menschen. Mythen legitimierten die Gewalt, doch bis heute sind Sesshafte und Jäger und Sammler einander fremd und feindlich geblieben.

Mit dem Hausbau muss der Mensch sein gesamtes Leben neu ordnen. Das Leben im Haus verlangt Maßnahmen der Kontrolle, der Zurückhaltung und der Planung. Der Mensch wird häuslich, domestiziert. Er muss seine langen Wege im Außen in kleine Gesten der Häuslichkeit umwandeln, seinen Atem reduzieren und seine Muskelkraft und Ausdauer umarbeiten in die feinen Tätigkeiten des Anbaus von Nahrungsmitteln und der Pflege von Tieren.

Die Gegenwart ist eine Passagenzeit, in der die Menschen den Prozess des Zusammenschlusses aller zu einer globalen Menschheit erfahren. Von den frühen Häusern inmitten der Natur ausgehend haben die Menschen eine unermessliche Welt aus Dingen, Apparaten, Verkehrswegen und Stadtagglomerationen geschaffen, aus Mobiltelefonen, dem Internet und Transportmitteln, die die Wege verkürzt und den Menschen lückenlos vernetzt haben. Alles erscheint ausufernd, vermessen, maßlos, wenn auch das Leben des Menschen ein Wohnen bleibt – eine Maßgabe der Globalisierung.

 

5. Die abendländische Kunst als Maß der Gegenwart

Ein zweiter Ursprung der Gegenwart liegt im Christentum. Im christlichen Bilderverbot und in seiner Überwindung. Aus der Weltlichkeit und Oberflächlichkeit des spätrömischen Reiches hat sich durch die Sehnsucht nach einer tieferen, verbindlicheren Lebensweise das Christentum und eine Gottesgesellschaft herausgebildet.

Mit dem Niedergang des Römischen Reiches musste das Abendland nördlich der Alpen den Prozess der Entstehung von Haus und Stadt, von Können und Wissen noch einmal initiieren. Ihr Schöpfungsmythos, die Bibel, lag in Teilen schriftlich vor. Ein heiliger und bildreicher Text, der sich in Bezug auf das Bild gegensätzlich deuten lässt: Der Mensch, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes, sollte sich von Gott und seiner Heiligkeit kein Bild machen. Nur für kurze Zeit hielten sich Christen an das Verbot. Im dritten Jahrhundert wird Gott zeichenhaft als Auge, Hand oder Dreieck in himmlischen Sphären wiedergegeben, Christus symbolisch als guter Hirte oder Fisch. Doch bereits Mitte des 4. Jahrhunderts erscheint Christus anthropomorph auf Wandmalereien in der Geste thronender römischer Kaiser. Auf dem Konzil von Ephesus im Jahre 431 wird Maria zur Mutter Gottes erklärt und hundert Jahre später als menschliches Wesen bildwürdig. Erst im zwölften Jahrhundert erscheint Gottvater anthropomorph in der Gestalt eines bärtigen Greises. Mit Gott als letztem Element des Heiligen wird im selben Jahrhundert das zentrale Zeichen der Christenheit, die Heilige Dreifaltigkeit, darstellbar: Vater, Sohn und Heiliger Geist als ein Motiv, das Luther Gnadenstuhl nannte. Gottvater sitzt auf dem Thron und hält das Kreuz, an dem der Sohn hängt, die Taube schwebt zwischen dem Mund des Vaters und des Sohnes. Gegen das biblische Bilderverbot hat die christliche Kirche die Bilder behauptet – anders als die jüdische Religion und der Islam – und die abendländische Kunst begründet (Eickhoff 1997, 527f).

Das Bilderverbot gründet im Bewahren der Einbildungskraft, dem bildhaften Denken. Nur sie vermag das Fundament, auf dem eine Kultur aufbaut, lebendig zu erhalten. Das nach außen gestellte Bild ist ein Abstandnehmen, eine Stützung der Einbildungskraft von außen durch die Sinnestätigkeit, mit der Folge ihrer Schwächung. Deshalb verbirgt sich hinter dem Bilderverbot eine allgemeine Vorschrift: das Verbot, weder Gegenständliches in die Natur zu stellen noch Schrift zu erfinden, noch sich ein Bild zu machen. Denn alles Entäußerlichte bringt in Bezug auf das Innen die Sinne und das Dingliche in den Vordergrund des Seins und sprengt die als heilige Einheit empfundene übersinnliche Welt. Zwar führt Sesshaftwerdung nicht automatisch zur Stadtkultur und diese nicht notwendigerweise zur Technik und zur Dominanz einer bürgerlichen Weltordnung, doch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Mensch, wenn er seine entäußernde und verdinglichende Kulturtätigkeit aufnimmt, nach und nach alle Elemente erfinden wird, die helfen, einen Mechanismus in Gang zu setzen, der aus der anfänglichen Naturfülle eine Brache macht und alle Phantasien und Möglichkeiten in Gegenstand, Schrift und Bild überführt.[2] Dieser Gefahr soll das allgemeine Verbot begegnen.

Die Zeit, in der das Christentum sein Zeichen und Logo – das Bild der Heiligen Dreifaltigkeit – erfindet, das zwölfte Jahrhundert, ist eine Zeit der Stadtgründungen und eine Epoche des ökonomischen und politischen Aufschwungs des Bürgertums. In den Städten entsteht rasch eine Interaktion von Handwerk, Handel und Wissenschaft, die Lehrbetriebe, Akademien und allgemein bildende Schulen nach sich zieht, die das Wissen auf viele überträgt und Erfahrungen, Fertigkeiten und Erkenntnisse verdichtet. Im Mythos Wissenschaft werden die Erschütterungen, die der gehörte Mythos hervorruft, geglättet, bis die Abstraktion den Gang der Kultur wesentlich mitbestimmt.

Bis in die Gegenwart hinein haben die Bürger die Bilder aus ihrem Innern herausgearbeitet und eine reichhaltige Geschichte der Kunst hervorgebracht. Die Bildproduktion beschränkt sich jedoch nicht auf die Kunst, denn mit ihr ist eine Unzahl neuer Medien entstanden mit einer Flut unterschiedlicher Bilder und Bildarten sowie im Schlepptau der Bildproduktion eine immense und bestaunenswerte Dingwelt. Die Darstellung der Menschwerdung Gottes, zugleich eine Gottwerdung des Menschen, führt die Evolution der Bewusstwerdung seit dem Hausbau fort, die in den Prozess der Säkularisierung mündet.

 

6. Die Bestimmung des Selbst als Maß der Gegenwart

Der dritte Ursprung der Gegenwart liegt in der Erfindung der Säkularisierung. Der Versuch, das Leben vor der Vernunft zu rechtfertigen, nicht vor Gott. Aus der Säkularisierung leiten sich das Individuationsprinzip und das Selbst ab.

Die Renaissance ist eine Zeit des Aufbruchs. Historiker verstehen unter Geschichte nicht länger die biblische Schöpfung, die Menschwerdung Gottes und das Warten auf das Jüngste Gericht, sondern gliedern sie nüchtern in Antike, Mittelalter und Gegenwart, Naturwissenschaftler sehen die Erde um die Sonne kreisen, Humanisten deuten das Dasein vom antiken Denken her, Philosophen gilt als Mutter aller Wahrheit die Erfahrung, Staatstheoretiker entwerfen Gesellschaftsutopien ohne christlich-moralische Vorgaben und Ökonomen lassen sich von der Idee des Nutzens leiten. In der Kunst wird die Wirklichkeit nach dem Augeneindruck gestaltet: Die Perspektive ist ein visueller Naturalismus, der mit der Freude am eigenen Wirken und dem individuellen Standpunkt und Stil des Künstlers korrespondiert, der von da an seine Werke signiert.

Die Mitte aller Neuerungen ist das Individuum. Der im mittelalterlichen Stand gebannte Mensch löst seine enge Bindung an die Religion und entwirft sich als tätiges und schöpferisches Individuum, das das Wagnis eingeht, ein Selbst zu werden, ein Wesen, das sich auf sich selbst gründet und sich aus sich selbst heraus bestimmt.

Die Renaissance führt die drei Ursprünge, die bestimmend sind für die Gegenwart, zu einer Ursache zusammen, indem sie die in der Sesshaftwerdung, in der Bildproduktion und in der Säkularisierung angelegten Möglichkeiten zur Realität bringt. Bemerkenswert ist, dass eine besondere Leibeshaltung des Menschen die drei Elemente zusammenfasst, zum Ausdruck bringt und zum Werkzeug ihrer Realisierung machte – das Sitzen auf Stühlen.

Das Stuhlsitzen im Alltag ist eine Erfindung der Renaissance – des neuzeitlichen Europa. Nach der Reformation übernimmt die Oberschicht der Bürger die Geste der Könige, Päpste und Mönche und holt den Thron als Stuhl in Wohnhäuser und Kontore. In einem drei Jahrhunderte währenden Kampf dringen Stuhl und Sitzen in alle Schichten vor, bis die Französische Revolution das Sitzprivileg aufhebt. Das Sitzen auf Stühlen vollendet die Sesshaftwerdung, bringt die Selbstbestimmtheit des Menschen zum Ausdruck und ist im Rahmen des Christentums ein Bild für das Heilige: Zum einen durften bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts nur Geweihte sitzen, zum anderen wird das Heilige vorwiegend vermittelt über den Thron dargestellt und über das Kreuz, das von seiner inneren Struktur her ein Thron ist (Eickhoff 1993, 73f, 87). Seit dem 4. Jahrhundert wird Christus in Gestalt thronender römischer Kaiser wiedergegeben, Maria seit dem 5. Jahrhundert als thronende Gottesmutter, Christus seit dem frühen 6. Jahrhundert auch als Gekreuzigter[3] und seit dem 12. Jahrhundert der thronende Vatergott als bärtiger Greis im Bildnis der Heiligen Dreifaltigkeit. Wolfgang Schöne zufolge ist das Heilige nach 1800 nicht mehr darstellbar (Schöne 1957, 42, 53f). Wenn sich aber das Heilige über Thron und Kreuz vermittelt und sich das gehobene Bürgertum im Alltag des Stuhls bedient und seit 1791 jeder sitzen darf, ist die Behauptung Schönes überzeugend, denn indem das Heilige eine reale Gestalt annimmt, ist es als Bild nicht mehr einleuchtend. Wenn zum Ende des 19. Jahrhunderts der erste Massenstuhl entsteht, der Wiener Caféhaus-Stuhl, nimmt der Mensch Platz und verbreitet den Stuhl über die Erde. Der moderne Mensch wird Homo sedens, in dem das Bild des Heiligen zwar aufbewahrt ist, das aber seine Kraft verloren hat.

 

7. Untergangszenario – Entmutigung und Kunst

In Umbruchzeiten überhöht der Mensch die Vergangenheit. Das Stereotyp von der guten alten Zeit, das Klagen über den Vertrauensverlust und der Glaube, früher sei alles besser gewesen, sind genährt von Illusionen, die allerdings verständlich sind, denn mit der Kritik an den Routinen gehen Vertrauen und Orientierung verloren.

Die Illusion liegt in der Annahme, die Krise sei absolut, der Untergang stehe bevor und es gehe auf das Ende zu. Die Zeit sei nicht umkehrbar. Deshalb würden der soziale Zusammenhalt durch den Zerfall der Gemeinschaft in Einzelatome, die Individuen, brüchiger, das Dasein unter den Bedingungen der Abstraktion größer, Marktstrategien brutaler und die Politik destruktiver. Diese Deutung bemüht das Bild des biblischen Untergangsmythos oder der Apokalypse und resultiert aus der Schwierigkeit, über den Horizont einer Krisenzeit hinauszusehen.

Krisen sind Teil der Logik der Geschichte. Jede Epochen unterscheidet sich von den Vorhergehenden, dennoch bleibt etwas bewahrt, das durch die Geschichte getragen wird, so dass das jeweils Neue auf einer Traditionslinie liegt. Dadurch erhält das Abendland eine Richtung – Sesshaftwerdung, Hausbau, Akkumulation von Wissen und Können, Bildproduktion, Säkularisierung, Verhaltensverfeinerung, Individualisierung, Abstraktion, Zusammenschluss aller Territorien zu einem globalen Ort. Eine Richtung, die wiederholt als Prozess des Verschwindens gedeutet wurde. Für Michel Foucault verschwindet der Autor, für Francis Fukuyama die Geschichte, für Judith Butler die Geschlechtsiden­tität und für Jean Baudrillard das Ende. Sie bedienen sich des Stereotyps.[4]

In Weltkriegen und systemimmanenten Unfällen, in Naturzerstörungen und in Armut, in unzähligen Bürgerkriegen und in der Leichtigkeit, mit der über Genmanipulation, das Klonen und den Menschen als Ersatzteillager diskutiert wird, ist das 20. Jahrhundert so ungeheuer destruktiv gewesen, dass der Eindruck entstand und noch besteht, die Existenz der Menschheit sei bedroht.

Die Rolle von Wegbereitern übernehmen in Krisenzeiten Wagemutige. Bahnbrecher. Vorreiter gegen Tradition und Routine. Erfinder neuer Maßstäbe. Zuerst sind es wenige, die ohne Vorbild sehen können. Sie experimentieren, entwerfen Gesellschaftsutopien und versuchen, in den Laboratorien des Handwerks (Werkstätten), der Kunst (Ateliers) und des Wissens (Universitäten) Konsequenzen aus dem nicht mehr Angemessenen zu ziehen.

In der Kunst beginnen Zeiten der Unruhe mit Stilbrüchen. Künstler setzen die geltenden Gesetze des Gestaltens außer Kraft. Sie berühren, greifen an, verletzen, rütteln auf und entwerfen neuartige Vorstellungen vom Schönen. Die Kontrahenten dieser Zeit sind reformerische Zeitgenossen und Konservative. Den einen gilt das Neue als Unmaß, Hybris und Hässlichkeit, den anderen als Maß, Aufbruch, Leben und Schönheit.

Was der Mensch heute, im medialen Zeitalter wahrnimmt, ist eine Unmäßigkeit des Denkens, des Verhaltens und der Gestaltung. Im vorgegebenen Takt des permanenten Konsums überschüttet sich der Mensch mit Bildern, die ihn abhängig machen und die Einbildungskraft behindern, bis ihr poetisches Potential versiegt und die innere Bildproduktion erlahmt.

Auf diese maßlose Zeit ohne erkennbare Verbindlichkeit reagieren Künstler mit maßlosen Werken, um in ihnen ein Stück Maßlosigkeit und Zerrissenheit abzubilden. Ihre Kunst verweigert das klassische Ideal und zeigt das Übersteigerte, Unmäßige, Exaltierte. Das kann heilende und Erkenntnis fördernde Wirkungen haben, denn Kunstwerke sind Doppelmedien, die einerseits Neues schaffen und provozieren, andererseits überraschen, Freude bereiten und Erkenntnis fördern. Wenn sich aber diese maßlose Kunst etabliert und zur anerkannten Kunst aufsteigt, finden ihre Werke den Weg in Institutionen und Museen, erhalten ihren Platz gleichrangig neben den Werken der Kunst und ihre Unmäßigkeit wird zum neuen Maßstab. In seiner Hochform ist die Kunst in Krisenzeiten ein Unmaß, das eine Richtung auf eine bessere Zukunft in Bezug auf Politik, Moral und Ästhetik hat. Unmaße sind nicht nur Urformen des Neuen, sie sind das Schöpferische und das den Menschen tief Bewegende.

Das Dilemma sowohl der gegebenen Weltlage als auch ihrer Deutung besteht darin, dass die biologische Evolution mit dem kulturellen Wandel nicht Schritt hält, eine Differenz, die Günter Anders veranlasste, von der Scham des Menschen und seiner Antiquiertheit zu sprechen. Zumindest fördert sie Enttäuschung und Ressentiment, da die Anpassung an die moderne Welt nur unzulänglich gelingt. Dabei handelt es sich weniger um ein Zurückbleiben der Biologie als um das Unvermögen, Lebensformen zu entwickeln und Produkte zu erzeugen, an die sich der Menschen adaptieren kann. Die Evolution von Biologie und Kultur in ein angemessenes Verhältnis zu bringen wird zukünftig ein wesentlicher Auftrag von Wissenschaft und Politik, von Philosophie und Kunst sein.

 

8. Aufbruchsszenario – Motivation und Kunst

Kunst gehört zum Leben des Menschen. Von Anbeginn an. Sie ist Ausdruck seiner Beschäftigung mit der Welt. Ein Sinn der Kunst liegt in ihrer heilenden Wirkung, indem sie immer wieder Neues erfindet, integriert, die Welt neu erfasst und überraschende Blickwinkel und geistige Ausblicke eröffnet, in denen sich der Mensch wiederfindet.

Kunst ist Können. Im engen Sinne das ästhetische Vermögen. Doch anders als die Produkte der Technik verfolgt sie keine praktischen Zwecke, sondern ist Ausdruck des spezifisch Menschlichen wie Phantasie und Freiheit, wie die Ordnung schaffende Begabung und die Spiellust.

Kunst ist das Mehr. Das Darüberhinaus. Sichtbare Form des Schöpferischen ebenso wie des Andächtigen und Feierlichen. Kunst berührt den Menschen in seinem Wesen und verschwistert ihn mit dem All. Sie geht über die Schöpfungen der Natur ebenso hinaus wie über die Hervorbringung von Wissenschaft, Handwerk und Technik, steht aber eng mit ihnen in Verbindung. Obwohl Künstler in ihrer Arbeit das Alltägliche über­schreiten und jenseits der Begriffe Universen kreieren, haben sie eine Wirkung auf das alltägliche Tun innerhalb der Gemeinschaft, indem ihre Werke anregen und Motivation für den Alltag geben.

Motivation leitet sich vom Lateinischen movere her und heißt bewegen. Sie deutet auf die innere Bewegung, das Bewegtsein, und ist Freude am Handeln, Lust an der Kommunikation und Ansporn zu einem geistesgegenwärtigen Leben. Kunstwerke motivieren, indem sie beim Betrachter Resonanz erzeugen. Allerdings hängt die Resonanz nicht allein von der Qualität und vom Kontext des Werkes ab, sondern gleichermaßen vom Bildungsstand des Betrachters – von seiner Sensibilität und von seinem sachlichen, historischen und ästhetischen Verstand.

Kunstwerke erbauen. Weil sie Motivation und Aufbruchstimmungen aufbauen, die den Menschen aus den Zwängen und Routinen herausführen. In ihnen wird er vom Transzendenten berührt und angeregt, Wagnisse einzugehen, Gründe zu überdenken und Perspektiven zu entwickeln. Sie machen den Menschen sensibel für den Sinn des Schönen, in dem untergründig ein Schonen angesprochen ist. Als Unmaße eröffnen sie Perspektiven, die Beiträge zur Überwindung einer aus den Fugen – den Maßen – geratenen Welt sind.

 

9. Leere als Maß der Moderne – Abstraktion, Fundstück, Installation

Der in der Renaissance begonnene Aufbruch des Bürgertums wird politisch in der Französischen Revolution, ökonomisch in der Industrie und künstlerisch in der Abstraktion weitergeführt. In der Industrie wird die Tätigkeit mechanisch, arbeitsteilig, monoton und entfremdet und – in diesem konkreten Verständnis – abstrakt.[5] In der Kunst leitet die Abstraktion eine Leerung ein: Sie ist ein Plädoyer für die Aufhebung der Gegenständlichkeit, für das Ende des Kunstschaffens sowie für das Schließen musealer Räume.

 Bis ins 19. Jahrhundert hinein orientiert sich die künstlerische Darstellung am Gegenstand, den Paul Cézanne zu vereinfachen, neu zu ordnen und zu abstrahieren beginnt. Der Kubismus von Pablo Picasso und George Braque führt den Abstraktionsvorgang fort und bildet einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Kunst. In der Bildhauerkunst arbeiten Künstler wie Constantin Brancusi, Pablo Picasso, Alexander Archipenko oder Hans Arp an der Abstraktion. Im Schauspiel entwickeln Wassily Kandinsky und der Komponist Thomas von Hartmann gegenstandslose Bühnenkompositionen, die sie abstraktes Theater nennen, und Eugène Ionesco und Samuel Beckett das absurde Theater. In der bildenden Kunst verwirft Kasimir Malewitsch am konsequentesten den Formenkanon der gegenständlichen Darstellungsweise, wie er seit der Renaissance als Norm und Maß gilt. In seinem Werk Schwarzes Quadrat treibt er den Abstraktionsvorgang auf die Spitze, indem er sich auf eine Form und die reinen Farben weiß und schwarz beschränkt. In seinen theoretischen Schriften Vom Kubismus zum Suprematismus von 1915 und Die gegenstandslose Welt von 1928 fordert er eine gegenstandslose Malerei, in der nur die geometrischen Formen Rechteck, Dreieck und Kreis gelten. Er gab der Kunst eine von gegenständlichen Darstellungen freie Leinwand. Das Schwarze Quadrat zieht einen Schlussstrich unter die Epoche der Renaissance, die als Naturalismus, Gegenstandsdarstellung und Perspektive begann.

Von anderer Seite her sprengen Marcel Duchamp und Joseph Beuys den Rahmen traditioneller Kunst und verstärken jeder auf seine Weise die Irritationen der Leere. Beuys geht davon aus, dass jeder Mensch Künstler sei und nach Duchamp ist potentiell jedes Ding ein Kunstwerk, wie die Ready-mades, in denen André Breton vorfabrizierte Objekte sieht, die den Status eines Kunstwerks erlangen durch die Wahl eines Künstlers. Ihre Ideen sind Reaktionen auf Massenproduktion und Werbung, sind aber auch ein Stück Kunsttheorie. Duchamp stellt die Leere in Bezug auf die Tätigkeit des Künstlers her, denn der Künstler sollte nur auswählen, nicht hervorbringen. Beuys leert den musealen Raum – Museen, Messen, Galerien – und eröffnet an seiner Stelle den Lebensraum, den er mit Kunst einrichtet, installiert. Kunst und Leben verbinden sich. Duchamps Kunst-Suche und Beuys Raumversetzungs-Kunst verlangten nach einer Neudefinition der Kunst.

Die Leere – als Abstraktion und als Erkennen der abgetrennten Sinne – hat durch den Suprematismus, das Ready-made und die Installation eine kreative Kunstproduktion initiiert. Zugleich ist die Leere Ausdruck des Seins. Sie ist Realität und Wahrheit, denn die Welt an sich gibt es nicht. Welt ist, wie Kant gezeigt hat, immer wahrgenommene und gedeutete Welt. Jenseits der Deutung ist sie uns unbekannt und bloße Formel. Insofern ist eine gegenständliche künstlerische Darstellung lediglich die Darstellung des sinnlich Wahrgenommenen, das, was uns eben nur als das erscheint, was wir wahrnehmen. Folgerichtig befreit die Moderne die Kunst vom Gegenstand, wodurch die freien Flächen und offenen Räume ein weites Möglichkeitsfeld für die Gestaltung bieten – für die Darstellung von Farbe als Linie und Fläche, von Farbe, Skulptur und Installationen als Sichtbarmachen von Empfindungen, Phantasien und Träumen.

 

10. Vermessene Kunst der Gegenwart

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Kunst unüberschaubar. Die Kriterien ihrer Einordnung und Bewertung scheinen verbraucht und alles erscheint möglich. Die enormen Möglichkeiten ergeben sich aus der rationalen Lebensführung, der Dominanz der Technik, den Abstraktionsmechanismen und der Globalisierung. So stellt der Umgang mit Kunst eine Herausforderung dar, denn als Passagenzeit verstellt die Gegenwart den Menschen die Möglichkeit, neue Formen, Qualitäten und Perspektiven zu erkennen. Adäquat kann Kunst nur noch im Rahmen der Globalisierung wahrgenommen, gedeutet und verstanden werden (Danto 1984, 164).

Das Projekt der Selbstverwirklichung des Menschen ist vorerst gescheitert. Die Europäer steigerten ihre Selbstbestimmung zur anmaßenden Auserwähltheit und glaubten sich im Recht, andere Kulturen zu dominieren und zu unterdrücken. Da aber die Unterdrückten auf dem Gewissen der Unterdrücker lasteten und sich herausstellte, dass Technik und Industrie nicht zur Lösung der Weltprobleme taugen, zeigen sich Europäer zu Beginn des 21. Jahrhunderts eher entmutigt und entmündigt als selbstbestimmt und eher isoliert als von innen her bewegt.

Zu einer Zeit, in der alles möglich scheint, passen Künstler wie Hermann Nitsch, Jeff Koons und Damien Hirst, Ron Mueck und Luc Tuymans, Christoph Schlingensief, Mauricio Cattelan und Santiago Sierra, die Publikum und Kunstkritiker polarisieren, mit Schlingensief als dem Künstler des Globalen, der Disziplinen und Kulturen überschreitet.

In Standards, Maßen und Werten sieht er keinen Sinn: „Es gibt keine klare Botschaft, wer das für sich in Anspruch nimmt, der lügt“ (Löhndorf 1998, 96). Ein sich selbst widersprechender Satz, zu dem passt, dass Schlingensief mit einem moralischen Gestus auftritt, also doch eine Botschaft hat. Seine Arbeit ist ein radikalisiertes Abbild seiner Zeit. Auf der X. documenta wird er wegen eines Schriftzugs Tötet Helmut Kohl zu seiner Performance Mein Fett, mein Filz, mein Hase – 48 Stunden Überleben für Deutschland verhaftet. Wie schon die Amtsenthebung von Beuys zeigt, liegt ein Unmaß der Kunst in der Überschreitung der Kunst hin zum Politischen, worin staatliche Instanzen ein Unrecht sehen. Das gilt auch für Schlingensiefs Big-Brother-Spiel Bitte liebt Österreich in Wien im Jahr 2000. In einem vor der Staatsoper aufgestellten Container mit der Aufschrift Ausländer raus! – dem Wahlslogan Jörg Haiders – leben Asylanten, die nach und nach von Zuschauern aus dem Container herausgewählt werden. Wer übrig bleibt, erhält in Österreich Asyl – so das Spiel. Die verschiedenen Bezüge, die Schlingensief herstellt, lassen sich als Tribunal gegen die Banalität des Politischen, die Rücksichtslosigkeit des Einzelnen und die Unmoral der Wirtschaft ebenso lesen wie gegen die Angepasstheit der Kunst, gegen Fremdenfe­indlichkeit und die allgemeine Passivität.

Die Pointe der Arbeit von Schlingensief liegt in der Konfrontation von Ästhetik mit Politik und Sozialität, um das Verständnis für das Problem zu schärfen, was ein ästhetisches Kunstwerk wert ist angesichts der Auswüchse einer amoralischen und unvernünftig geordneten, einer ungerechten und destruktiven Welt. Er überschreitet Disziplinen, verschmilzt sie miteinander und lenkt den Blick auf den Nerv aktueller gesellschaftlicher Konflikte.

Im Frühjahr 2007 startet er ein die Welt umspannendes Projekt, bei dem eine besondere Bühnenform – der Animatograph[6] – im Zentrum steht, eine in Segmente unterteilte Drehbühne, die Besucher nicht nur betrachten, sondern betreten sollen, um Mitakteure im Schauspiel zu werden. Eine Weiterentwicklung der Bühne, die Schlingensief für seine Parsifal-Inszenierungen in Bayreuth entwarf. Der Animatograph geht auf eine Reise durch die fünf Kontinente. Er wird nicht in Theatern, Museen oder Opernhäusern, sondern an markanten, zentralen und brisanten Orten wie einer brasilianischen Favela, einem nordamerikanischen Vergnügungspark, einem namibischen Slum oder einem nepalesischen Markt jeweils sieben Wochen lang aufgestellt und bespielt (Van der Horst 2007, 1). Schlingensief sieht in seinem Drehbühnenkonzept ein komplexes Speichermedium, das durch Rituale, künstlerische Aktionen und alltägliche Handlungen aufgeladen wird, die charakteristisch sind für die Kultur und die Menschen eines Ortes. Die Aufführungen und Aktionen werden dokumentiert und an die nachfolgenden Spielorte weitergegeben, indem sie in die neuen Aufführungen integriert werden. An jedem Ort werden sie entladen, modifiziert und mit neuem Kulturmaterial bereichert. Am Ende der Weltkulturreise soll der Animatograph eine kulturübergreifende, globale Vision repräsentieren, die in traditionelle Kunsträume – Theater, Museen und Festivals – zurückgeführt und erneut zur Aufführung gebracht wird (Van der Horst 2007, 1).

Die Vision könnte in Ton, Bild und Film, in Artefakten und Requisiten auf der Bühne, in der Gestaltung der Bühne und in den Köpfen und den Körpern derer, die an dem Projekt teilgenommen oder davon gehört und sich damit auseinandergesetzt haben, ein Stück Weltkultur anschaulich machen. Der Animatograph könnte zu einer Weltbühne, zu einem globalen Kunst- und Kulturorganismus werden, in den alle Ebenen des Lebens zu einer Inszenierung aus Kunst und Alltag, aus Politik, Mythologie und Ästhetik der Kulturen der Welt eingeschrieben sind. Das transkulturelle Projekt wird dadurch stimmig, dass Schlin­gensief Sucher neuer Maßstäbe und Gegenspieler ist, kein typischer und allgemein respektierter Vertreter der europäischen Kultur und Kunst. Der Animatograph lässt sich als Versuch deuten, dem Unmäßigen, das frühe Arbeiten von Schlingensief charakterisiert, etwa dem Mangel an einer strengen Formensprache und Ästhetik, worin auch ein Mangel an Erkenntnis liegt, ein Maß zu geben. So ist Christoph Schlingensiefs Reaktion auf die Globalisierung der Entwurf eines globalen Theaters. Eines theatrischen Weltkulturszenarios, das Künste, Medien und Kulturwissen aller Kontinente verbinden möchte und den Animato­graphen zum Kulturgefäß des Globalen macht.

Mit der Erfindung des Hauses, der bildlichen Darstellung des Heiligen in der europäischen Kunst sowie der Realisierung des heiligen Bildes im sitzenden Europäer löst sich der Mensch nach und nach aus der engen Naturbindung und entwirft sich als ein Selbst, das sich aufmacht, die gesamte Erde, den Globus zu unterwerfen. Philosophen, Wissenschaftler, Künstler und der Zukunft verpflichtete Menschen thematisieren und kritisieren die Unterwerfung und arbeiten daran, sie aufzuheben und in ein Miteinander zu verwandeln: in ein Miteinander der Menschen und ein Miteinander von Mensch und Natur. Beides impliziert Respekt und ein gegenseitiges Lassen und wäre das Bild von der Würde des Menschen unter den Bedingungen der Globalität.

Von der Sesshaftigkeit lassen hieße, nicht jedem Impuls, sich setzen zu wollen, nachzugeben, denn Sitzen ist nicht in erster Linie eine äußere Haltung, sondern eine Haltung der Sedierung und inneren Formung. In der Fixierung und Begrenzung der Physis bildet sich im Sitzenden das abendländische Denken, Fühlen und Verhalten aus und macht das Sitzen am Tisch zur größten Produktivkraft, die der Mensch je erfand. Der Tisch ist der moderne Acker, auf dem der Stuhlsitzende seine geistige Saat aussät und erntet. Stuhl und Tisch bringen Europa den materiellen und geistigen Reichtum, statten die Sitzenden aber auch mit einer emotionalen Armut aus: Sie nehmen ihnen Atem, Muskelkraft und Elastizität, trennen sie von der äußeren Beweglichkeit und inneren Bewegtheit, rücken sie von ihren Gefühlen ab und begrenzen ihre intuitive Orientierung durch die Sinne. Da in dem Maße, in dem der Stuhl über die Erde verbreitet wird, auch diese für den modernen Europäer typischen Eigenarten globalisiert werden, sollten Europäer auf dem Fuß beweglicher werden und Atem und Sinne ausbilden – und nicht, wie moderne Nomaden, reisend noch mehr sitzen –, bevor sie Stehen, Hocken und Knien, Schneidersitzen, Lagern und Einbeinstehen, Kauern, Tanzen und Gehen verlernen. Sinnesschulung, Atemübung und Haltungspflege wären nicht zu unterschätzende kulturübergreifende politische Beiträge zu einer dem Menschen würdigen Globalität.

Von der Fülle und dem Unmaß der Bilder lassen hieße, zu lernen, eine Dosierung und Qualifizierung der Bilder vornehmen zu können. Denn die Masse der Bilder und die Inflation ihrer Qualität überreizt die Einbildungskraft, die ihre Begabung zur Konzentration einbüßt. Der Mensch wird zerstreut, verliert sich, verfehlt jede Disziplin und wird entmutigt. Oder er sucht das Heil in besonderen Herausforderungen, wie sie aus den Extremsportarten bekannt sind. Der Mensch muss den Ansturm der Bilder zähmen.

 Von der Dominanz infolge der europäischen Art der Selbstbestimmung lassen hieße, den Domus Europa in den Domus Globus zu integrieren und das Dominieren und Besetzen, das Besitzen und Beherrschen sowie die daraus folgende Idee der Auserwähltheit in ein Mitmachen und Mitsprechen zu verwandeln. Europa muss sich auf die gemeinsame und partner­schaftliche globale Kommunikation einlassen und vom Imperialen der vergangenen Jahrhunderte lassen, wie Peter Sloterdijk anmahnt: Und wenn „Europa wieder erwacht, kehren Wahrheitsfragen in die große Politik zurück“ sowie Europas tiefster Gedanke, „dass man der Verachtung widerstehen muss“ (Sloterdijk 2002, 58).

Drei Empfehlungen als spielerisches Lassen ohne dominanten Zugriff – ausprobieren, experimentieren und offen weitertreiben, ohne das Politische der Philosophie und der Kunst ganz aus den Augen zu verlieren.


Literatur

 

 

Blumenberg, Hans (1999): Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart

Danto, Arthur C. (1984): Die Verklärung des Gewöhnlichen. Frankfurt/Main

Eickhoff, Hajo (1993): Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens. München und Wien

Eickhoff, Hajo (1997): Atem der Sinne. In: Ternes, B./ Neidhöfer, H. (Hg.): Was kostet den Kopf. Ausgesetztes Denken der Aisthesis zwischen Abstraktion und Imagination. Zum 60. Geburtstag von Dietmar Kamper. Marburg, 526-531

Löhndorf, Marion (1998): Lieblingsziel Totalirritation. In: Kunstforum Bd. 142, 10/98, S. 94-101

Schöne, Wolfgang (1957): Die Bildergeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst. In: Schöne, Wolfgang. Das Gottesbild im Abendland. Witten und Berlin, 7-56

Sloterdijk, Peter (1994): Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence. Frankfurt/Main

Stenger, Ursula (2004): Die anthropologische Dimension der Bilder. In: Schuhmacher-Chilla, Doris (Hg.): Im Banne der Ungewissheit. Bilder zwischen Medien, Kunst und Menschen. Oberhausen, 117-137

Van der Horst, Jörg (2007): Der Animatograph – eine Lebensmaschine von Christoph Schlingensief.

Schlingensief.http:/www.schlingensief.com/projekt.php?id=t052&article=theorie

 

 


[1] Nach den USA entwickelte sich im 20. Jahrhundert Japan zur Hochkultur und Weltmacht. Im 21. Jahrhundert wird China folgen, so dass sich die Orte der Entwicklung von Hochkulturen einmal Richtung Westen um die Erde bewegt hätten.

[2] Vgl. Blumenberg, Hans (1999): Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart, S. 16. Für Blumenberg enthält die Definition des Mensch nicht, dass er ein Technik erzeugende Wesen ist, das eines Tages eine Dingwelt hervorbringen wird.

[3] Das christliche Kreuz, ist eine Erfindung christlicher Künstler des frühen 6. Jahrhunderts. Christus starb an einem römischen Richtpfahl, einem vertikalen Holz, an dem der Verurteilte stehend hing.

[4] Dennoch können sie in ihren Schriften Wahrheiten vermitteln. Allerdings sind es unmäßige, utopische Wahrheiten, die diese Protagonisten der historischen Wissenschaft verkünden.

[5] Hier ist nicht die Marxsche Wertanalyse angesprochen, sondern lediglich die Form körperlichen Tätigseins.

[6] Der Animatograph ist ein von Robert W. Paul um 1900 entwickelter bildprojizierender Apparat für das Theater. Bei Schlingensief soll er aufzeichnen, was in der Seele geschieht.



Hajo Eickhoff 2001



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