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Ausstellung in München, aus: Timm Ulrich's Gehäuse für Denkmäler und Brunnen, Freiburg 2000 

 

 

Drüber und Drunter

Timm Ulrichs‘ Gehäuse für Denkmäler und Brunnen

 


Drunter


Drüber und Drunter – Zukunft und Vergangenheit. Das Drunter sind Monumente, das Drüber Gehäuse zu ihrer Umhüllung. Das Drunter bewahrt Erinnerungen an die Vergangenheit, das Drüber Denkmäler für die Zukunft. Vergangenheit und Zukunft – Drunter und Drüber.

 

Monumente wie Brunnen und Denkmäler sind Bestandteil des Gedächtnisses einer Kultur. Ansprachen an die Zukunft. In „Gehäuse für Denkmäler und Brunnen“ hat Timm Ulrichs Gehäuse, die in Winterzeiten Monumente abdecken, zu einem künstlerischen Werk komponiert.

 

Denkmale erinnern an Ursprünge wie die Schöpfung der Welt durch Götter oder das Hervorbringen und Bewahren einer Kultur durch Menschen. Hervorgegangen sind sie aus den Lebenszusammenhängen um die Bestattung: Aus dem Versprechen, den Ursprung der Welt und der Kultur im Gedächtnis zu behalten. Der Standort von Denkmälern liegt innerhalb geweihter Bezirke. Zuerst sind sie Bestandteil von Gebäuden oder selbst Bauwerke. Wenn sie sich von der Wand freigemacht haben, stehen sie innerhalb von Bauwerken wie Tempeln und christlichen Gotteshäusern, wie Katakomben und Palästen. Später erobern sie die zentralen Plätze einer Gemeinschaft. Denkwürdig werden auch gottähnliche Heroen, Religionsstifter, Naturereignisse, Kriegsschauplätze und reitende Feldherren, verdienstvolle Bürger. Denkmäler sollen im Andenken an den Ursprung Empfindungen der Zugehörigkeit zur eigenen Kultur anregen und Gefühle der Identität wachrufen. In ihrer Gesamtheit erweisen sie sich als Stifter und Bewahrer von Kulturen und als manifestes Wissen einer geistigen Einheit.

 

Brunnen sind Zugänge zur unteren Welt und zum Unbewussten. Wege zu den Geheimnissen und Rätseln des Lebens. In der Tiefe der Schachtwände werden Opfergaben aufbewahrt. Quadratisch ausgemauerte Brunnen im Islam gelten als Sinnbilder des Paradieses. Praktisch sind Brunnen künstliche Anlagen zur Gewinnung von Grundwasser. Sie entstehen mit dem Verbleiben des Menschen an einem Ort. Der Mensch konzentriert sich auf die Vertikale und gewinnt Tiefe, wenn er sesshaft wird. Brunnen sind seit dem vierten Jahrtausend bekannt. Die Bibel erwähnt den Jakobs- und den Hiobs-Brunnen. Um ihre Öffnung zu schützen und die Wichtigkeit des Wassers für die Existenz des Menschen hervorzuheben, wird im antiken Athen der erste städtische Marktbrunnen als Brunnenhaus, das Nymphäum, eingeweiht. In ihm verbinden sich Brunnen und Skulpturen zu einem Monument, monere heißt erinnern, zu einem Erinnerungsmal. Antike Häuser haben Zierbrunnen, christliche Basiliken Reinigungsbrunnen, und in den Kreuzgängen christlicher Klöster stehen Brunnenhäuser. Im Europa nördlich der Alpen gibt es Brunnendenkmäler erst seit dem zwölften Jahrhundert. In fürstlichen Parkanlagen gehören Brunnen und Wasserspiele zu den wichtigsten Gestaltungsmitteln der Gartenarchitektur. Die Erfindung der Wasserpumpe, vor allem aber die Einführung der Wasserleitung im neunzehnten Jahrhundert haben dem Brunnen die Wichtigkeit für die Wassergewinnung genommen, ihn aber als Element öffentlicher Platzgestaltung beibehalten. Brunnen und Denkmäler sind Zeichen der Ursprünge und Quellen. Brunnen gehen aus praktischen Quellen hervor, Denkmäler aus geistigen.

 

Dem Monument ist Konkurrenz immanent. In Zeiten des Wandels führt sie dazu, Monumente aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Ihr Verschwinden kann Anzeichen eines politischen Machtwechsels sein. Im Verschwinden alter und Erscheinen neuer Monumente kommt der Wandel einer Gemeinschaft zum Ausdruck. Die Inthronisierung ägyptischer Pharaonen wird vom Aufstellen neuer und dem Umarbeiten bestehender Denkmäler begleitet. Tritt in Rom ein Kaiser seine Herrschaft an, werden die Köpfe alter Kaiserstatuen durch Marmorköpfe mit seinem Antlitz ersetzt. Die Bildnisse überlebter Kaiser und Pharaonen verschwinden teilweise ganz aus dem Herrschaftsbereich. Monumente können auch als Kriegsbeute verschleppt oder infolge politischer Veränderung ins Abseits gestellt werden. Sie können ihren Standort aber auch beibehalten und dennoch dem Blick entzogen werden: Zum Anlass von Bauvorhaben, bei Demonstrationszügen oder ausgelassener Festlichkeit wie im rheinischen Karneval werden Brunnen, Bäume, Fassaden oder Denkmäler mit Gestellen und Gehäusen aus Holz geschützt. Wie der Brunnen auf dem Aachener Rathausplatz. Die Bronzestatue Karls des Großen, die sich über dem Brunnen erhob, steht heute – geschützt vor Vandalismus und Schabernack – im Aachener Rathaus. Den Brunnen ziert eine Kopie. Monumente können aber auch über die Jahrhunderte hin verwittern. Heute bedroht die Stadtluft die Träger der Erinnerung. Ihre korrodierenden Bestandteile greifen die Oberflächen an, wie viele Originale zeigen, die, durch Reproduktionen ersetzt, in Museen stehen. Vorübergehend werden öffentliche Objekte in künstlerischen Umhüllungsaktionen zum Verschwinden gebracht. Regelmäßig wiederkehrende Umhüllungen erfolgen bei Denkmälern mit Wasserspielen und bei Brunnen, die in Wintermonaten gegen den Frost mit Holz ummantelt werden.

 

Denkmalschutz steht wie die Gegenwart zwischen Zukunft und Vergangenheit. Aber für ein Denkmal stehen Gegenwart und Zukunft in Konkurrenz zueinander: Der Denkmalschutz sieht in den Ideen, Werten und Gestalten der Vergangenheit erhaltenswerte Ideale und entzieht der Gegenwart Objekte, um sie als Prinzipien vergangener Kulturen in gutem Zustand zukünftigen Generationen zu übergeben. In Sommermonaten sind Brunnen und Denkmäler präsent und als Gegenwart zugänglich, während ihre Gehäuse ohne Funktion im Depot stehen. Dagegen sind sie im Winter durch ihre Gehäuse der Gegenwart entzogen, um sie der Zukunft zu erhalten.

 

 

Drüber

 

Monumente tragen das Verschwinden in sich. Ein potentielles Drüber, das sie unsichtbar macht. Mit „Gehäuse für Denkmäler und Brunnen“ widmet Timm Ulrichs dem Verhältnis von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit von Monumenten und ihrem rhythmischen Wechsel von Abwesenheit und Präsenz seine Aufmerksamkeit. Er hat zwanzig Gehäuse für das Abdecken von Brunnen und Denkmälern zur Winterzeit zu einer möglichen Stadt geordnet und damit ihre Eigenständigkeit artikuliert.

 

Die Gehäuse zur Umhüllung sind Spezialfälle der Architektur. Gebäude ohne Eingang, ohne Fenster und ohne Rauchabzug. Sie domestizieren die öffentlichen Monumente, die sie im Winter umhüllen und von denen sie optimale, geometrische Formen sind. Das Gehäuse ist die abstrahierte Grenze des Monuments. Das Gehäuse ist gerade der Raum, in den das Monument hineinpasst, das Monument das Ding, um das sich der Raum des Gehäuses gerade schließen kann.

 

Die hausförmigen Gebilde, von Ingenieuren entworfen, lassen an der Stelle der zu schützenden Objekte Objekte neuer Art entstehen und bringen sich selbst als neue Skulptur hervor. Da Brunnen und Denkmäler den Charakter zentraler Areale in der Stadt bestimmen, sind die Gehäuse zur Abdeckung Einschnitte in das Stadtbild. Je nach Klima bedecken sie bis zur Hälfte des Jahres das Original und bestimmen dadurch die Besonderheit eines Platzes ebenso lange wie die Objekte, die sie verdecken. Klimatische Bedingungen sind Urheber für Gestaltung. Wie der Frost. Die sprengende und Gestalt gebende Kraft des Frostes hat Timm Ulrichs in der Arbeit „Potentielle Plastik“ von 1972 schon einmal sichtbar gemacht. Er hat ein Loch in einen Feldstein gebohrt und in einer auf dem Stein befestigten Anweisung empfohlen, Wasser hineinzugießen, es gefrieren zu lassen und zu warten, bis das Eis den Stein sprengt und das Naturkunstwerk vollendet.

 

In seiner Arbeit „Gehäuse für Denkmäler und Brunnen“ sind die Gehäuse auf dem Kopf stehende, umgedrehte Gefäße. Sie umhüllen die Monumente von oben und funktionieren nur oberflächlich durch das, was sie als Ding sind: Die Gegenständlichkeit der Abdeckung ist die Physik ihrer Oberfläche, ihr Wesen aber, die Fähigkeit des Umhüllenkönnens, ist ihre Metaphysik – Leere, Unstofflichkeit, Geist.

 

In der Regel ist nur das Monument oder seine Abdeckung sichtbar. Timm Ulrichs verletzt die Regel und zeigt beide in einer Zeit. Allerdings nicht in einem Raum. Die visuelle Abwesenheit eines Monuments erzeugt Irritation und fordert eine neue Wahrnehmung seines Standpunktes und seiner Umgebung heraus. Obwohl die Abwesenheit des umhüllten Originals auf das Original verweist, erhalten das Original und sein Umfeld zwei Gesichter: ein Sommergesicht und ein Wintergesicht, ein bewusst gestaltetes und ein aus der Not entstandenes. Das Kommunizieren von Verdecken und Zeigen und erneut Verdecken löst Überraschung und Neugier aus und führt zur Vergegenwärtigung und zur Erkenntnis.

 

Bliebe die Winterverkleidung auch im Sommer, würde sie langsam selbst das Monument. Und wie wäre es, wenn für den Entwurf eines Monuments, in dem fließendes Wasser eine Rolle spielt, auch die Umhüllung ein künstlerischer Bestandteil ist? Jedenfalls wäre das Wintergesicht eines Platzes nicht dem Zufall überlassen, bekäme nicht jenen Charakter des Winterschlafs. Der Aufstellungsort bliebe über das Jahr ein bewusst gestalteter Platz. Das winterfeste Monument hätte zwei Gestaltungen und wäre eine potentielle Plastik – mit zwei Möglichkeiten der Realisierung, die aber eine Gestaltung wäre.

 

Menschen sind Verhüllungsgenies, deren Geschichte sich als Geschichte des Verhüllens schreiben lässt. Künstliche Hüllen sind Häute wie Kleider, Häuser und Verpackungen. Sie umhüllen Gegenstände und Lebewesen starr oder elastisch, eng anliegend oder weiträumig, mit einem Spielraum. Die Verhüllungen machen unsichtbar oder transparent und abgeschattet. Sie können das Umhüllte verdecken, hervorheben, verschönern oder es schützen.

 

Zuerst verhüllt sich der Mensch selbst. Im Fellkleid, dem Fell erlegter Tiere, gibt er sich eine zweite Haut, die ihm als Dekor dient und ein Zeichen seines Triumphes ist. Die Verfeinerung der Materialien wird zum Ausgang für eine immer feinere Differenzierung der Umhüllung bis hin zu maßgeschneiderten Kleidern und Schuhen. Ein Teil des Magischen und der Attraktion der Bekleidung im Abendland geht zurück auf den Evangelisten Matthäus, der berichtet, wie ein Kranker durch die Berührung der Kleider Christi geheilt wird. Die Ge­schichte wiederholt sich beim heili­gen Martin (336-396), der der Legende nach seinen Mantel zer­teilt, um eine Hälfte einem Not leidenden Bett­ler zu geben. In Vättis in der Schweiz wird seine Statue im Frühjahr mit einem roten Mantel be­kleidet. Wer an ihr vorübergeht, schneidet sich ein Stück vom Mantel ab, bis der Heilige im Herbst wieder mantellos ist.

 

Auch die Wände des Hauses sind Hüllen, die einen Lebensraum bilden. Die ersten Wohnhäuser stehen inmitten der Natur. Nach dem heiligen Martin wird auch ein architektonischer Gebäudeteil benannt. Der nischenartige Ort, an dem die fränkischen Könige seinen Kapuzenrock, die capella, als Reliquie aufbewahrten und andächtig vor ihr niederknieten, wird zur Kapelle, dem Ort der Andacht. Der heilige Martin ist das vermittelnde Bild der Umhüllung zwischen Kleid und Haus und zwischen Textil und Stein oder Holz. Mit der Entwicklung von Städten umhüllt sich der Mensch ein drittes Mal.

 

Eine späte und besondere Form des Verhüllens ist die Verpackung. Sie dient dem Schutz von Gütern, die zerbrechlich sind oder verderben können. Ebenso dient sie der Verschönerung, der Wiedererkennung und Identifizierung. Verpackung ist ein Träger von Werbung. Die gestalteten Flächen sind Bestandteil der Positionierung eines Unternehmens und der ästhetischen Aufwertung eines Erzeugnisses. Verpackung ist heute zu einem eigenständigen Produkt mit eigener künstlerischer Gestaltung geworden. Die Eigenständigkeit der Verpackung lenkt ab. Lenkt den Blick vom Produkt auf seine Oberfläche, mit der es identifizierbar wird. Eine Verbindung aus Bekleidung und Verpackung ist die Corporate Identity, in der sich ein Unternehmen über Kommunikationsmittel, Produkte und Mitarbeiter – und deren Aussehen in Form, Qualität und Farbe der Kleidung – einheitlich präsentiert. In der Corporate Identity gibt sich der Mensch nur scheinbar mit seiner äußeren Erscheinung eine Identität, tatsächlich verdichtet er das Wesen eines Unternehmens in der einheitlichen Präsentation der Hüllen Kleid, Haus und Verpackung. Die Identität kondensiert im Einssein mit Haus, Familie und Lebensstil des Unternehmens.

 

In „Gehäuse für Denkmäler und Brunnen“ wählt Timm Ulrichs den entgegengesetzten Weg und wählt die stumme Oberfläche als Ausgangspunkt. Er geht von ihrer stillen Wirkung aus und bahnt der Wahrnehmung einen Weg zum Grund des Gehäuses und in die Tiefe seiner verzweigten Grundstruktur. Über die anschauliche Oberfläche transformiert er das Dinghafte ins Unkörperliche und Geistige.

 

 

Metaphysische Räume

 

Das Drunter wird in die Leere hineingestoßen. Es leert die Leere aus, indem es sie erfüllt. Die Leere weicht vor dem Gegenstand zurück. Wo ein Gegenstand ist, ist keine Leere, sondern Fülle, die Widerstand ist, den kompakte Gegenstände bieten. Das Gegenstehen des Gegenstandes ist sein Widerstehen. Nur was widersteht, schafft, Leibniz zufolge, Raum. Gefäße erfassen Gegenstände, fassen sie ein, umschließen sie. Ihr Wesen liegt in der Leere. Leeren heißt lesen. Gelesen wird das abgeerntete Getreidefeld. Es wird noch einmal gelesen, nachgelesen. Für die Nachlese wie für die Umhüllung ist Leere eine Voraussetzung. Umgekehrt setzt auch Leere etwas voraus, ist nicht nichts, wäre sonst nicht lesbar: Die Leere der Abdeckung besteht aus Luft, aus winzigen, gegeneinander beweglichen Gegenständen, den Atomen und Molekülen, die einem Gegenstand wie dem Monument keinen Widerstand bieten. Im Haus kann der Mensch nur leben, weil die Haut des Hauses einen leeren Bereich umschließt, in den er mit seinem Körper eintaucht. Im Gehäuse kann ein Monument nur geschützt werden, weil die Haut des Gehäuses einen leeren Bereich umschließt, in das es mit seinem Körper eintaucht.

 

Timm Ulrichs bringt Verborgenes oder Nichtwahrgenommenes zur Anschauung, indem er Unbekanntes oder das durch Gewohnheit, Konvention und Erziehung Untergegangene ins Sichtbare hebt. Er greift Alltägliches, im Alltag Wahrnehmbares auf und macht die unter der Oberfläche liegenden, verborgenen Kraftfelder und Motive sichtbar. In der Narkose oder Anästhesie hat der Mensch keine Empfindungsfähigkeit. Ästhetik und Anästhetik sind Gegensätze und bedeuten Wahrnehmen und Nichtwahrnehmen. Hinsichtlich besonderer Eigenschaften und wesentlicher Merkmale von Gegenständen befreit Timm Ulrichs den Menschen aus der Narkose. Er fügt dem Feld des Wahrnehmbaren etwas hinzu und erobert dem Menschen neue Wahrnehmungsfelder, verhilft unsichtbaren Existenzen zur einsichtigen Existenz. Einen Teil ihrer Kraft und Schönheit verdankt seine Ästhetik dem Prozess des Wahrnehmbarmachens natürlicher, kultureller und künstlerischer Zustände und Ereignisse. Indem er mit ihren geschichtlichen und kulturellen Bedeutungen arbeitet und spielt und sie auf die Gegenwart und den gegenwärtigen Menschen bezieht, ist er als Künstler auch historischer Anthropologe.

 

Timm Ulrichs macht Gegenstände und Ereignisse zu Subjekten. Lädt sie mit vitalen Kräften auf, macht sie lebendig. Als gingen sie selber die Wege, die sie zeigen. Er zieht Gegenstände aus dem Unter-, Neben- und Hintergrund in den Vordergrund und überführt ihre dienende in eine aktive, gebietende Rolle. Die auf diese Weise verwandelten Ereignisse und Gegenstände erhalten eine eigene Würde.

 

Jedes Weglassen ist immer auch ein Hinzufügen. Prinzipien der Arbeit von Timm Ulrichs sind Lücke, Zwischenraum, Enthaltung. Mit ihnen lässt er weg, was die Kultur in ihrer Geschichte an Objekte und Prozesse herangetragen hat. Mit ihnen entwickelt er sein Werk. In der Arbeit „Aus dem Rahmen gefallen“ von 1995 gibt es weder Bild noch Gemälde, nur den leeren Bilderrahmen; in „Wand-Bild: Mauerwerk IV“ (1963/68) ist der Putz im Rechteckformat von der Wand gekratzt und das Mauerwerk – Backsteine und Fugen – wird zum Bild; in „Bild-Keilrahmen-Skulptur II“ (1967/70) bildet ein wuchtiger, fast fünf Meter hoher Keilrahmen das Werk. Das Erwartete, ein Gemälde oder eine Zeichnung, dem der Keilrahmen als Halt und Werkzeug dient, gibt es nicht. Es fehlt. Wie die Leinwand. Der bloße, Dienst leistende Keilrahmen ist das Werk. Die zwangsläufig oder zwanghaft mitgedachten Elemente wie Leinwand, Farbe, Zeichnung oder Stilrichtung sind weggelassen. Die Arbeit erscheint unfertig, nicht in erwarteter Weise bis zum Ende ausgeführt. Aber im scheinbar Unfertigen, in der Schwebe, entwickeln sich in der Wahrnehmung Gestaltung und Bedeutung. Die Leere schlägt in der Wahrnehmung um in ein Feld neuer Wahrnehmungen und Einsichten. Einsicht ist Hineinsehen, ist eine Sicht hinein in etwas. Timm Ulrichs erfasst von der Physik eines Objektes, von seiner Oberfläche her das Wesen des Objekts oder den Grund seiner Physik: die Metaphysik. Die Objekte werden in ihrem Grund, in ihrer Idealität und Reinheit gezeigt. In der neuen Konstellation wird das bisher nicht Wahrgenommene sichtbar.

 

 

Gehäuse für Denkmäler und Brunnen

 

Aus Hunderten von Gehäusen, die im Winter Brunnen und Denkmäler umhüllen, hat Timm Ulrichs zwanzig ausgewählt und an einem Ort inszeniert. Er hat den Stadtraum, der normalerweise zwischen ihnen liegt, auf wenige Meter und Zentimeter reduziert. So ist im Sommer eine Teilmenge der über die Stadt verstreut angeordneten Wintergehäuse auf einem überschaubaren Areal zu einem Tableau geometrischer Formen und zum Bild einer kleinen Stadt zusammengestellt. „Gehäuse für Denkmäler und Brunnen“ ist ein Gebilde aus mythologischen und kulturellen, technischen und künstlerischen, archaischen und alltäglichen Beziehungen und Anspielungen.

 

Häuser sind nach außen gewendete Träume, Empfindungen und Gedanken. Mit dem Haus fasst der Mensch ein Stück Erdboden ein und gibt der Natur eine neue Verfassung. Das Haus ist ein Ort der Orientierung, auf den das gesamte All bezogen wird. Der umschlossene und verdunkelte befriedete Bezirk gibt dem Menschen eine neue spirituelle und emotionale Haltung und erzeugt Gefühle der Sicherheit.

 

Die Gehäuse, die Timm Ulrichs zusammengestellt hat, sind ihrer Größe nach Kinderhäuser. Häuser für Kinder. Sie sind aber auch Kinder von Häusern. Daraus zieht die Komposition ihre Überschaubarkeit und ihre Überraschung. Betrachter nehmen einen übergeordneten Standpunkt ein, sehen von den Dächern her auf den fiktiven Ort und vermögen dadurch einen Blick auf sich und ihre eigene Wohnform zu werfen, ein wesentlicher Ausdruck der Weise des Menschen, in der Welt zu sein. Die Gehäuse stehen zusammen auf einer Bühne, sind Repliken, Zerrbilder und Muster, sind Duplikate, Schablonen, Klischees. Sie bilden die Kulisse eines Schauspiels, dem die Betrachter beiwohnen, das sie aber als ihr eigenes erkennen und ihr unmittelbarstes. Häuser sind substantielle Orte der Sesshaften, Sinnbilder für Beständigkeit und dafür, dass der Mensch dem großen Haus des göttlichen Alls ein kleines Haus, den menschlichen Kosmos, abringen konnte.

 

Wie in der frühen Performance „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ von 1975 arbeitet Timm Ulrichs an der Konkurrenz von Sichtbarkeit, Wahrnehmung und Doppeldeutigkeit. Das Primäre wird stellvertretend durch ein anderes Objekt repräsentiert. Indem er Stellvertreter herausgreift und sie an einem eigenen Ort und in einer neuen Konstellation aufstellt, macht er die Stellvertreter zu Hauptakteuren, die er als Träger einer Doppelfunktion vorstellt: als Gehäuse für ein anderes Objekt und als selbständigen Gegenstand mit eigener Funktion, Kraft und Ästhetik. Timm Ulrichs befreit die Objekte, gibt ihnen eine Sprache, emanzipiert sie aus ihrem sklavischen Dasein. Die Gehäuse gewinnen in ihrer Präsentation eine kulturelle und ästhetische Kraft, wie sie Brunnen und Denkmälern eigen ist. Beide – Monument und Gehäuse – sind gleichberechtigt, vorausgesetzt, sie nehmen ihre Rolle an und erfüllen sie angemessen. Der sekundäre Gegenstand, das Gehäuse für ein Werk, wird selbst Werk.

 

In ihrer architektonischen Gestalt erscheinen die komponierten Gehäuse wie die Silhouette einer Stadt. Betrachtet aus der Ferne. Sie zeigen die Schemen von Hausdächern, Schornsteinen und Türmen. Suggeriert werden Häuser und Gebäude unterschiedlicher Größe und Gestalt, differenzierter Funktion und Wichtigkeit, wie es typisch ist für menschliche Ansiedlungen. Offener Raum zwischen ihnen für Wege und Plätze und absurderweise freie Räume für Brunnen und Denkmäler und ihre Abdeckungen. Und Die Komposition wirkt in ihrer Einfassung durch die Bäume und die Straße wie eine von Mauern umgebene mittelalterliche Stadt. Die Arbeit erinnert an „San Gimignano“ (1983/86). Dreizehn auf den Kopf gestellte Tische, in deren Zargen sich jeweils ein fünfeckiger Straßenpflasterstein stellvertretend für ein Haus befindet. Die nach oben ragenden Tischbeine stehen für die große Zahl an Türmen der italienischen Stadt San Gimignano. Mit einfachen Zeichen hat Timm Ulrichs in beiden Fällen den Schein einer Stadt erzeugt, in „San Gimignano“ darüber hinaus das charakteristische Erscheinungsbild einer tatsächlichen italienischen Stadt manifestiert.

 

Die „Gehäuse für Denkmäler und Brunnen“ bilden eine Tafel geometrischer Formen: Kreis und Quadrat, Rhombus und Rechteck, Kegel, Zylinder und Pyramide, Kegelstumpf und Trapez. Sie veranschaulichen die Idee von Descartes, die Natur und ihre bewegten Prozesse geometrisch darstellbar zu machen. Sie sind Abstraktionen der in den Bäumen bewegten Natur, vor denen sie platziert sind. Die geometrische Gestalt der Gehäuse ist mit der organischen Gestalt der Bäume konfrontiert: das Holz mit dem Baum, die Kultur mit der Natur, die menschliche mit der natürlichen Ordnung, die Statik mit der Bewegung.

 

Ihre einfachen geometrischen Formen teilen die Gehäuse mit der Gestalt nomadischer Behausungen wie Iglu, Zelt, Grashütte und Jurte. Sie haben weder Eingänge noch Fenster. Nichts dringt hinein, nichts drängt heraus. Auch ihre Blindheit haben sie vielfach mit dem Erscheinungsbild der nomadischen Behausungen gemein. Da der Mensch seine Existenzform in die Welt projiziert, sucht er in jedem architektonischen Gebilde Elemente der eigenen Behausung. Er tastet die Gehäuse nach Öffnungen ab. Doch Zugänge wären nur von unten her möglich, wie bei Iglus, wenn sie wegen der Heftigkeit des Windes und dem Bemühen, die Wärme innen zu halten, unterhalb des Bodenniveaus liegen und mit Schleusen ausgestattet sind.

 

Die hermetischen Gehäuse vermitteln keinen praktischen Sinn. Der Mensch kann sich in ihnen nicht aufhalten, obwohl sie den Anschein erwecken, bewohnbarer Lebensraum für Menschen zu sein. Der Zutritt ist gesperrt, nicht einmal vorgesehen. Verwunschene Häuser. Virtuell, märchenhaft, voller Rätsel. Scheinhäuser. Attrappen. Stumm und doch beredt wie Häuser von Schildbürgern, wie Spukschlösser und Geisterhäuser.

 

Dennoch sind die Gehäuse Gehäuse. Gegenstände des Gebrauchs. Umhüllungen zum Schutz vergangener Werke, Werkzeuge und Werke des Denkmalschutzes. Hervorgebracht durch Körper, die als wertvoll erachtet werden und zu deren Gestalt, Proportion und Größe in einer festen Relation stehen. Darin sind sie aufeinander bezogen und wiedererkennbar. Der Zugang erfolgt von unten her. Timm Ulrichs macht deutlich, welcher Art die Häuser sind und welche Beziehungen sie zum Menschen und seiner gegenwärtigen und vergangenen Kultur haben: Körper können Behausungen hervorbringen. Alte und monumentale Körper wie Brunnen und Denkmäler kreieren Häuser ohne Türen, Fenster und Rauchabzug. Dagegen erzeugt der menschliche Körper Gehäuse mit Eingang und Abzug für den Rauch. Das Haus des Menschen atmet, und seine Gestalt, Proportion und Größe stehen nicht in einer geometrischen, sondern in einer geistigen Relation zum Menschen, es ist nicht unmittelbar am Körper des Menschen ausgerichtet wie die Gehäuse an ihren Monumenten. Deshalb können Menschen in Häusern leben, die für vergangene Epochen errichtet wurden, für vergangene Menschenkörper.

 

Die Gehäuse der Monumente sind unzugänglich und scheinen körperhaft wie die verschlossenen und stillen Gebäude auf den Gemälden von Georgio de Chirico. Die Gebäude seiner pittura metafisica wirken undurchdringlich, opak, rätselhaft. Sie sind geistige Gebilde mit monumentaler Wirkung. Die Gehäuse zum Denkmalschutz sind zwar in ihrer Stofflichkeit gegeben, haben aber in ihrer Zurückhaltung und Verschlossenheit etwas von de Chiricos Geisteshäusern, die nicht auf das Haus selbst, sondern auf sein Geheimnis und das Geheimnis seiner Melancholie verweisen. Das Geheimnisvolle des Hauses erwächst aus der Unkenntnis seines Innen und der möglichen Gefahr, die hinter seinen Mauern lauert. Es entspringt seiner Vergleichbarkeit mit dem göttlichen All und seiner Verschmelzung mit ihm und aus dem Frevel gegen die Götter, als der Mensch sich mit dem Hausbau ein Stück aus dem All herausschnitt.

 

Die Gehäuse konfrontieren den Betrachter mit der Stille. Sie wirken meditativ. Sie stehen zusammen in ihrer reinen architektonischen Gegebenheit. Reduziert auf das Wesentliche: Wand und Dach. Gerade die Stille ist es, die ein Licht auf den modernen Menschen wirft. Stille steht dem Lärm moderner Städte, ihrer Hektik, ihrer Hochgeschwindigkeit und Reizüberflutung entgegen. Moderne Städte sind laut und nicht nur mit Menschen, sondern auch mit einer Vielzahl von Gegenstände erfüllt, die weder ein freies Gehen noch ein Flanieren erlauben. Der Stadtraum ist möbliert. Unentwegt stehen Objekte im Weg und fordern Achtsamkeit, immer drohen wir an etwas zu stoßen, gegen etwas zu laufen, gegen etwas gedrückt zu werden. Die Wege der Stadt bilden ein Dickicht aus Hinweisschildern, Blumenkübeln und Straßenlaternen, aus Briefkästen, Müllcontainern und Parkuhren, Haltestellenhäuschen, Telefonzellen und Verkehrsschildern, aus Ruhebänken und Pollern, Mobiltoiletten und Bauzäunen, aus Anschlagsäulen, Stromaggregaten und Sperrgittern. Die Stadtmöbel unterwerfen den Stadtraum einer Ordnung, die den Menschen in seinen Bewegungsabläufen erfasst und einem einheitlichen Rhythmus unterwirft. Die Gehäuse lassen das Rätselhafte dieses gewaltigen, emsigen und lauten Treibens des Menschen fühlbar werden. Sie stehen still und leer in der Leere, bilden Inseln, stehen auseinander, sind isoliert. Die Stille der Gehäuse hat etwas Feierliches, ist Ordnung und Festlichkeit, Klarheit und Weihe.

 

In die Stille der Erscheinung der Gehäuse fügt sich ihre Musikalität. Sie sind musikalische, musische und museale Gehäuse. Zusammengestellt zu einer musikalischen Notation. Jedes Gebäude mit einem Repertoire eigener Töne. Sie erklingen, wenn der Wind dagegen weht, der Regen darauf prasselt, eine Hand daran klopft, ein Vogel sich darauf niederlässt.

 

Die Stille und das Stumme der Gehäuse erinnern an das letzte Haus des Menschen, das Grab. Sie spielen auf die unterschiedlichen Gebäude und Behältnisse für die Bestattung an. Fensterlos und verschlossen wie ägyptische Pyramiden, wie Grabhäuser, Mausoleen und Sarkophage entfalten sie ihre monumentale Wirkung, werden Monument. Die Gehäuse rühren an das Wesen des Monuments. Das Großartige von „Gehäuse für Denkmäler und Brunnen“ ist, das es Timm Ulrichs gelingt, einfache Holzgehäuse zu zeigen und die Schöpfung zu treffen. Gehäuse zur Abdeckung von Monumenten zusammenzustellen und über sie das Wesen des Monuments, seine Komplexität und kulturelle Bedeutung zu erfassen und darzustellen.

 

Das Grab führt den Menschen zurück in den Kreislauf der Natur. Die Gehäuse sind Kleider aus Holz. Naturstoff, genagelt und mit Blech und Teerpappe verstärkt. Kein Blick ins Innen möglich. Die Augen werden auf der Oberfläche gebunden. Das Holz verdeckt die Gestalt des darunter liegenden Denkmals oder Brunnens. Das Material ist neutral und soll durch die Art seiner Bearbeitung den Eindruck behindern, die Umhüllung selbst könnte ein Kunstwerk sein. Seinen Ursprung hat Holz im Baum, der als Mittelpunkt der Welt und als Sinnbild des Lebens und der Unsterblichkeit gilt. Er sichert das Grundwasser. Er speichert Wärme und stabilisiert das Klima, reinigt die Atmosphäre, versorgt sie mit Sauerstoff und schützt vor Erosion. Holz wie Brunnen entstammen derselben Zeit. Wie der Brunnen entsteht die Nutzung des Holzes mit dem sesshaften Menschen. Sesshafte benötigen Raum für Häuser und Dörfer, für Weiden und Äcker, den sie dem Wald durch Rodung abgewinnen, benötigen aber neben dem Raum für Häuser auch Holz zu ihrem Bau. Holz ist die Umwandlung des Baumes durch den Menschen zu Rohstoff. Timm Ulrichs hat das Holz in der Gestalt von Gehäusen, dem Sinnbild von Kultur und Beständigkeit, dem Baum, dem Sinnbild des Lebens, gegenübergestellt.

 

Die Gehäuse sind Denkgehäuse. Allein über die Darstellung der Oberfläche von Gehäusen und deren Gruppierung zu einer fiktiven menschlichen Ansiedlung wird der Betrachter an naturhaften, technischen, kulturellen, historischen und künstlerischen Begebenheiten und Entwicklungen entlang hinaus aus der Routine und der Wahrnehmung des Alltäglichen in die Tiefe geführt, in der – wie bei Brunnen und Denkmälern – Ahnungen von Rätseln und Geheimnissen des Lebens aufbewahrt sind. Auf unterschiedliche Weise regen die „Gehäuse für Denkmäler und Brunnen“ das Gefühl, die Sinne und das Denken an, und die Stille und die Schönheit der einzelnen Gehäuse wie ihr neuer Ort führen hinein in verborgene Gegenden menschlicher Existenz. Die Hinwendung und die Liebe zu den Gegenständen und das Herausarbeiten ihrer Eigenheit, Selbständigkeit und Würde ist eine Geste in Timm Ulrichs‘ Werk, die eine Geste des Übergangs von Kunst und Gebrauch und von Kunstwerk und Gegenstand ist. Der Blick wird auf die unterschiedliche Gestaltung und die Oberfläche der Gehäuse gelenkt, die je nach ihrer Verwitterung und Patina Plastizität, Schönheit und Würde erhalten und in ihrer Ästhetik den Rang eines Kunstwerkes oder Werkes gewonnen haben. Das Drüber ist Drunter.

 

 

 

© Hajo Eickhoff 2000

 

 

 


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