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aus: Hermann Rudorf, Skyview. Colorspace, München 2004



Unter der Haut der Malerei

Strichführungen ins eigene Innen 

 


Geistige Bilder. Wortlose Kommunikation. Weltbilder. Entstanden auf der Suche nach Orientierung. Sie sind Festigung der Gemeinschaft und Motivation des Einzelnen. Materielle Bilder. Entstanden in der Leere: im Verblassen der Erinnerung an den Ursprung von Weltall und Gemeinschaft. Bildwerke der Malerei sind geistige materielle Bilder. Ihre Herstellung und Betrachtung sind symbolische Akte zur Wahrung der Zeit.


Malen ist Fühlen und Denken mit Farbe. Jede Wahrnehmung kann dem Menschen eine neuartige Welt öffnen, die im Wandel des Lebens ein Unwan­delbares erkennen lässt. Das Erkannte kann mitgeteilt und in Inspirationen aufgezeichnet werden. Auf Höhlenwänden und Papyros, auf Holz und Wandputz, auf Papier und Leinwand. Als Schöp­fer solcher Aufzeichnungen machen Maler die Geschichte der Menschheit auch zu einer Geschichte der Kultivierung durch das Sehen.


In Zeiten der Epochenwende hebt sich Neues eindrucksvoll vom Alltäglichen ab. Wie Renaissancemaler begannen, mit perspektivischem Blick eine gegenständliche Welt darzustellen. Im 20. Jahrhundert machten sich Maler vom Figurativen frei und definierten ihren Beruf in einer allgemeinen Form als künstlerischen Umgang mit Farbe. Ein Reigen der Re­duktion begann, indem Bilder formal in Licht, Farbe und geometrische Formen aufgelöst und Phänomene jenseits des Figurativen unmittelbar darstellbar wurden.


Die Werke von Hermann Rudorf sind Reisen entlang von Strichführungen ins eigene Innen. Der Strich ist ein Herzstück seiner Malerei. Der Pinselstrich als Schriftzeichen. Die Formen und Kräfte des Weltalls wie Sonne und Erde, Pflanze und Tier berühren die geistige und emotionale Basis des Menschen. Auf den Innenweltreisen sucht er diese Basis, auf der sein Wissen, Können und seine individuelle Erfahrung mit allgemeinen Formkräften zusammenklingen kann. Jede Reise ist ein Insichgehen, ein Einatmen, eine Inspiration, auf der sich Gefühl und Geist mit dem Atem des Alls verbinden und sich den Formkräften des Alls nähern. Dagegen sind die Realisationen der Kunst Exspiration, Ausatmen.

 

Seine Bilder entstehen allein mit den Mitteln der Malerei – mit Pinsel, Farbe und ebenem Malgrund – und folgen einer Logik, nach der ein einmal gesetzter Strich alles andere nach sich zieht und den Bildaufbau vorbestimmt. Mit dem Strich gibt Hermann Rudorf der Farbe eine Struktur und macht sie zu Linie, Fläche, Raum und Skulptur. Der Strich ist seine kleinste Bildeinheit, dem er malerisch alles zu entlocken versucht. Im Bild wird der Strich im Horizont der Reduktion von Raum, Inhalt, Farbe, Licht und Zeit geordnet, stabilisiert und in Richtung auf eine Bedeutung hin gelenkt.


In der malerischen Handlung, in der die Erfahrung im Umgang mit Farbe, Form und Ausdruck manifest wird und sich zu einer Theorie weitet, sind die Reduktionen miteinander verwoben. In der Opposition von Grund und Vordergrund (Raum) sind die den Vordergrund gestaltenden Striche so in den Malgrund gesetzt, dass die Bilder aus zwei Ebenen zu bestehen scheinen, wodurch sich der räumliche Ausdruck verknappt. Der lebendige Strich (Inhalt) schafft organische Figuren ohne Details und deckende Flächen. Transparenz (Farbe) ist die Durchlässigkeit der Striche des Vordergrundes. Sie ist eine Reduktion der Farbe, durch die das Licht des Grundes (Licht) den Vordergrund passieren kann, so dass der Betrachter unter die Haut der Malerei sieht, auf den Grund von Bild und Welt. Die Werke entstehen jeweils in einem einzigen Malgang (Zeit), einem bemessenen Zeitraum. Einem Rausch, einem meditativen Ent­rücktsein – einer Strichekstase. Deshalb ist ein Werk von einer einzigen Stimmung getragen. Die Ekstase schließt Erfahrung und Motivation in einem Augenblick in einer Gegenwart zusammen und entscheidet so über die ästhetische Wirkung der Bilder: ihre Reinheit, Intensität und Geschlos­senheit.

 

Das Triptychon Tageswanderung ist aus raschen, sicher gesetzten schwarzen Strichen aufgebaut, die parallel verlaufen, sich überlagern, Flächen bilden und sich vor einem gelben Grund stoßen und reiben. Opposition und Transparenz lassen das gelbe Grundlicht den Vordergrund passieren. Das Figurative folgt aus der Struktur der Striche: Sonne, Mensch, Landschaft, menschlicher Torso mit Hut. Die Sonne zieht ihre Bahn mit dem Wanderer und ihre runde Form wandelt sich zur eckigen Form, die auf die Begrenztheit des Menschen verweist. Tageswanderung ist eine Gedankenwanderung entlang eines Weges aus Strichen.

 

Blumen in Vase gibt dem Strich einen anderen Sinn. Hier wird eine ganze Welt und ein eigener Bildkosmos aus einer Strichfolge herausformuliert. Geschwungene und in sich gedrehte Striche heben sich von einem graugestuften Grund ab und enden in organischen Formen. Diskursive Strichführungen, präzise zu plastischen Raumkörpern modelliert, zu Figuren formuliert wie in einer Schriftsprache – Strichsprache. Das Figurative folgt aus den Drehungen und Schwüngen des Strichs. Die Blumen erscheinen wie beseelte Wesen – bewegt, eindringlich und offensiv. Zugleich schafft die Komposition des Bildes eine erhabene Stille und Balance: Ein Urereignis, in dem die Schöpfung Lebenskraft verströmt.


In Meer verlangt ein breiter Strich – ein Flächenstrich – den Einsatz des ganzen Körpers. Vorbereitet im Geist entstand das Bild in einer Emotion in der Körperbewegung. Die Wortstriche Meer bilden zur entstandenen Wellenspur einen Kontrast. Das Figurative folgt aus dem Körperschwung – dem breiten Strich, der einen Welle –, in dem Gefühl, Atem und Körperbewegung die Kraft des Meeres verdichten.


Das zweiteilige Bild Meer erfordert beim Setzen der geraden und wellenförmigen, horizontal verlaufenden Striche ein Abschreiten des großflächigen Bildes. Das Figurative folgt aus der Spannung zwischen der horizontalen Strichführung und dem Vertikalen Bildaufbau der drei Felder von Schwarz, Grau und Grau. Energien von Erde, Wasser und Himmel treffen wie Urkräfte des Alls aufeinander.


Die Farbkonstellationen schließen an das zweiteilige Meer an. Die Striche sind gerade und buntfarbig. Präzise gezogen bauen sie aus Horizontalen und Vertikalen Farbgitter auf. Die Striche des Grundes sind transparent und flächig, die des Vordergrundes meist schmal und deckend, mit der gleichen Dichte wie die runde Form und das offene Rechteck im Triptychon Tageswanderung. Sie schließen die Bilder wie ein Schluss-Stein ein Gewölbe. Geradlinigkeit und Balance der Farben charakterisieren die Bilder. Das Figurative folgt aus Farbwerten, da Farbstriche und ihre Konstellation Assoziationen hervorrufen können: gelb Sonne und grün Vegetation, die Vielfalt der Farben Kosmos, Gefühle, Landschaften, Ideen oder Rhyth­men.


Der Strich definiert Form und Bildaufbau. Die Folge, in der sie gezogen sind, bleibt sichtbar, und je nach Strichart variiert die Körperdisziplin: gesetzt aus der Hand und dem Handgelenk, dem Arm und der Schulter unter Einsatz des gesamten Körpers. Die Art des Strichs und ihre Disziplin fordern ihr eigenes Atemmuster, ihre eigene Inspiration.


Die Bilder von Hermann Rudorf sind Zumutungen. Sie verlangen und geben Mut, eigene Gewohnheiten des Sehens und Denkens aufzugeben und sich auf eine neue, radikale Sehweise einzulassen, denn Auge und Geist sind extremen Eindrücken von Intensität, Reduktion und Distanz ausgesetzt. Die ästhetische Wirkung der Bilder ist die Reinheit: sein einzigartiges Zeichen und sein Prüfstein für Qualität. Die Qualität der Reinheit bedeutet Klarheit, Aufklärung und Licht, die zugleich Formen des Herstellens und des Verstehens sind. Diese Qualität der Reinheit, die durch die Striche und die sie im Bild ordnenden Reduktionen entsteht, ist das einende Band seiner Werke. Der Strich ist der Atem, der Luftzug der Bilder.


Die Darstellung eines Unaussprechlichen – der Bezug des natürlichen und geistigen Gefüges der Welt zum Gefüge eines Bildes – bereitet Freude und ästhetischen Genuss. In seiner bildnerischen Idee von Ursprung, Werden und Geheimnis des Seins stellt er die Welt unter Formgesetze, formuliert in einer eigenen Bildsprache. In der in geistiger Freiheit gezogenen Strichordnung liegen Eigenart, Schönheit und Zerbrechlichkeit der Bilder, die in Erstaunen versetzen, Orientierung und Ruhe geben. Die Bilder von Hermann Rudorf sind Vorstöße ins Ungewisse und Aussagen über Unaussagbares, sind Zeugen gegenwärtiger Existenzformen und Diskurse über Natur und Leben, Kultur und Malerei.



© Hajo Eickhoff 2004






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