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Vortrag für Manfred Reuter, Ausstellung: Termiten XX, Galerie Haus 23. Kunst- und Kulturförderverein Cottbus e.V., 2009

 



Wohnhaft

Von Häusern und anderen Hüllen



 I. Haus, Hülle und Weltall

 

Der Vortrag handelt von Gegenständen. Dingen. Geräten, Kleidern, Geschirr, Werkzeugen, Büchern, Möbel. Um alles das, was von Menschhand hergestellt ist. Wir haben viel, zu viel davon. „Mehr als wir brauchen“ ist ein künstlerisches Kredo von Manfred Reuter.


Ich habe mich eingestimmt auf diesen Vortrag, indem ich in dieser Woche manches aus meiner Wohnung entfernt habe. Ich habe jetzt 80 Zentimeter mehr Raum auf meinen Bücherregalen. Jeden Tag habe ich etwas weggeworfen oder entsorgt. Erst Bücher verschenkt, auch weggeworfen, dann kleine Dinge, halbvolle Schreibhefte. Kalender folgten. Ich bin erst am Anfang. Es geht weiter.


Das vermag Kunst zu bewirken. Nachdenken über das, was uns so nah ist, dass wir es aus den Sinnen verlieren. Hier, wo wir uns befinden, war einst Natur. Stellen sie sich die Szenerie einmal vor. Dichter Wald, wilde Tiere, keine Wege. Keine Gegenstände, nichts einzukaufen, vermutlich ein wenig Hunger und Durst. Was essen, was trinken, wo übernachten, wohin gehen? Was wir vorfinden und was wir sehen ist Natur.


Hüllen – Hülle zeigen. Hose zeigen, Hemd zeigen, Hülse zeigen, Haut zeigen.


Ich bin wohnhaft in Berlin, Duisburger Straße 13. Ich bin aber nicht verhaftet worden, sondern habe mich selbst dorthin verhaftet. Ich wohne seit 21 Jahren in der Wohnung. Ich habe dort noch nie renoviert. Flecken von oben sind zu sehen, weil es einmal regnete, als in der Wohnung über mir der Schlauch einer Wachmaschine platzte und niemand dort zu Hause war. Nur im Flur habe ich die Decke gestrichen. Ich benutze dort auch keine Seife. Oder fast keine. Ich komme mit einem Stück Seife knapp zwei Jahre aus. Damit muss sich alles säubern. Alle Hüllen – also Kleider. Vor allem mit warmen oder heißem Wasser. Ich sage das, damit Sie wissen, was Manfred Reuter und ich gemeinsame haben – Konsumreduktion, nachhaltiger Konsum, ökologische Weltanschauung – jeder auf eine andere Weise.


Hüllen sind Umhüllungen wie Hosen, Hülsen, Hoden, Hemden und Häute. Das Wort leitet sich von skeu ab, das Scheune heißt.


Der Mensch befindet sich in zwei ursprünglichen Hüllen – das sind Gebärmutter und Weltall (Himmel). Insofern ist der archaische Mensch nie obdachlos.


Was bedeuten die späteren Hüllen? Sie sind gedacht als die Schaffung eines eigenen, eines menschlichen, humanen Alls, Kosmos.


Das Organische wächst von der Hülle her. Oder in der Hülle liegt das Nahrhafte von Früchten, Gemüsen. Das gilt auch für das Kulturelle: mit der Erfindung des Hauses als Haut entsteht eine neue Kultur – die Kultur der Sesshaften, die sich wesentlich von jagenden und sammelnden Kulturen unterscheidet.


Im Übergang vom Jägertum zur Sesshaftigkeit wird alles am Menschen radikal umgekrempelt – Muskulatur und Atem, Organe und physische Kräfte, aber auch das Soziale und die Weltbetrachtung, Denken und Fühlen sowie die Art der Tätigkeit des Menschen. Intimität entsteht, Reflexion der Stimme an der Hauswand – also an einer Haut – und ein wachsendes Selbstbewusstsein, die Kontrolle des Erwirtschafteten durch Verteilung. Alle Lebewesen schaffen Behausungen – Nester, Bauten, Kokons, Kapseln, Zelt, Jurte, Schlafsack, Wabe, Termitenhügel. Allerdings keine Höhle. Zebras sind obdachlos.


II. Geschichte der Dinge


Mit dem Haus entsteht das erste Mal eine territoriale Macht. Wer unterwegs ist, schafft weder Grundbesitz noch Eigentum, denn alles muss reduziert werden, um ungehindert jagen und sammeln zu können. Alles gilt dem unmittelbaren Verzehr. Natürlich kann ein Fang auch aufbewahrt werden, um ihn später zu genießen. Wie Aborigines, die den ganzen Tag mit einer dicken Raupe im Mundwinkel auf den Abend warten. Eine reichhaltige Eiweißmahlzeit.


Wer sesshaft wird, muss seine Talente auf andere Tätigkeiten beziehen – der Anbau von Getreide beginnt und das Entwickeln von Gärten. Dazu ist ein enormes Wissen über Pflanzen notwendig. Sesshafte zähmen und züchten aber auch Tiere. Sie müssen nicht mehr gejagt werden, sondern werden in die Falle, den Stall hineingeboren.


Zugleich beginnt mit dem Bau des Hauses die Dingproduktion. Werkzeuge für die Tierhaltung und die Herstellung von Zäunen, sowie für die Bestellung des Ackers wie Messer und den Pflug.


Die Dingproduktion regt zu immer weiterer Produktion an. Die Dinge stehen in einem engen historischen, aber auch logischen Sinnzusammenhang. Auch deshalb, weil der Körper des Menschen mit der Einführung von Geräten von diesen abhängig wird.


Dem Haus folgen Dörfer und Städte. Handwerk und Handel werden entwickelt und die Berufe des Handwerkers und Handlers etablieren sich in den Städten. Wege verbinden diese Siedlungsformen zu weiträumigen Strukturen. Sie sind allerdings immer wieder durch Kriege und selbstverschuldete Umwelt- und Wirtschaftskrisen zerstört worden. Bis eines Tages eine Struktur blieb – das Römische Reich. Und als hätten die Römer ihren historischen Auftrag verstanden, haben sie die Struktur gefestigt – sie haben das gesamte Reich von Großbritannien bis Nordafrika und von Mesopotamien bis nach Portugal und ins westliche Frankenreich mit einem rechtwinkligen Straßenraster bedeckt. Die Struktur blieb. Sie wurde durch nachfolgende Generationen und Völker weiter gefestigt, immer weiter ausgedehnt – auch über den Atlantik hinweg – bis zur uns heute bekannten Welt.


Heute leben wir in einer Dingwelt. Ihren primären Eigenschaften ist die Natur - zu Dingen geformt – beraubt. Wir sind umgeben von Dingen, weniger von Natur. Jedoch sind alle Dinge letztlich Naturstoff – durch viele Arbeitsprozesse umgeformt – und deshalb auch gut, nachhaltig zu behandeln. Auch Plastik, Stahlprodukte, Computer-Chips. Vor 100 Jahren besaßen Menschen in der technisierten Welt im Durchschnitt 120 Gegenstände. Heute haben bereits Studenten über 3000. Deutsche Familien haben etwa 10000 Dinge im Haushalt.
 

III. Globalisierung


Globalisierung erscheint als Macht weniger, doch der Mensch ist von Anbeginn ein sich globalisierendes Wesen. Deshalb ist das Voranschreiten der Globalisierung kein Unsegen, sondern das, was den Menschen in seinem Innern bewegt und berührt – die Gegenwart des Anderen.
 

IV. Der Mensch ist die Mitte seiner Existenz – nicht der Gegenstand


Heute sind Dinge die Mitte unserer Existenz. Wir bemerken das, wenn wir krank oder verliebt sind. Die Dinge jedenfalls bedrängen und belasten uns. Sie brauchen Zeit, Raum und Energie, die sie uns nehmen. Und sie zerstören Natur.


V. Der Gegenstand und die Seele des Menschen


Räume und Dinge sind Spiegel unserer Seele. 


Wir haben nicht so viele Dinge, um der Dinge selbst wegen, sondern weil wir konsumieren wollen. Der Konsum führt aber nur zu neuem Vakuum, zu neuer Unzufriedenheit und zu neuem Konsum. Das Problem – wir werden mit der Dingwelt nicht mehr fertig. Die Dinge lähmen uns. Ein Extrem ist das Vermüllungssyndrom, unter dem Menschen leiden – das sind Menschen, die alles sammeln und sich von nichts trennen können. Ein psychisches Problem aus dem Umgang mit Menschen. Sie heißen Messies - von mess, Unordnung. 


Auch von anderer Seite gibt es Versuche, die Dinge zu reduzieren. Faktor 10, ökologischer Fußabdruck, Faktor 4 und ökologischer Rucksack. Meine Idee ist die, dass wir nur noch qualitativ hochwertige Güter erzeugen dürfen. 


Die japanische Kultur hat viele interessante Haus- und Wohnprojekte hervorgebracht. Häuser sind in leichter Bauweise unter Verwendung von Papier, Pappe und Bast erbaut, weshalb sie etwa alle 25 Jahre erneuert werden. In den Häusern sind die Wände verschiebbar und Tatamis - Matten aus Bast - bilden den Boden.


Japaner verwenden auch die Kapselbauweise - etwa bei Kisho Kurokawa und seinem Metabolismus. Wie in der Raumfahrt: vorgefertigte Kapselwohnungen mit 6 Quadratmeter Grundfläche, Kapselhotels mit Plastikkabinen, die 2 Quadratmeter Grundfläche und 1,2 Meter Höhe aufweisen. Bereits das Bauhaus hat in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Wohnmaschinen gesprochen, und Archigram hat in London mit den Walking Cities und seinen Utopien in diese Richtung gedacht. Eine Erinnerung bleibt an das Wohnen, das eher einer Folter gleicht: das Ungemach und der Wegschnapp. Japanisch heißt das Haus Otaku, das ebenso eine neutralisierende Anrede sein kann und eine Verbindung zum Cocooning hat, dem Einkapseln im Hause – gemeint sind diejenigen, die nur noch Fernsehen, sich mit Computerspielen beschäftigen und mit sich allein sein wollen oder müssen.


VI. Die Kunst von Manfred Reuter - Konsum-Reduktion


Immer geht es Manfred Reuter darum, dem persönlichen Besitz des Menschen ein humanes Maß zu geben. Ein Alternativmaß ist für ihn das Maß der Litfasssäule, die er in ein Kunstobjekt einbinden möchte. Wie Physiker Einheiten schaffen, so sucht er Einheiten in seiner Lebenswelt und Lebenskunst: Wohnen im Kubikmeter oder im Volumen, mit dem sich der Mensch - wie Sumo-Ringer - gerade noch aus eigener Kraft bewegen kann.


Die Technik macht es möglich, dass wir unser Equipment verkleinern. Büro und Bibliothek passen bereits in einen Laptop. Das Potenzial an Daten aus dem Internet oder das E-Book. Von jedem Ort aus können wir korrespondieren, die meisten Berufe
ausüben.


So haben wir es Manfred Reuter zu verdanken, dass in der Öffentlichkeit – wie heute hier – über ein so wichtiges, aber doch meist verdrängtes Thema nachgedacht wird. Danke dafür. Und Danke an Sie für ihre Aufmerksamkeit.



© Hajo Eickhoff 2009





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