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aus Westphal/ Stenger/ Bilstein (Hrsg.), Körperdenken. Erfahrungen nachschreiben, Festschrift für Helga Peskoller, Weinheim Basel 2021



Wie ist Extrembergsteigen möglich

Poesie der Gravitation

 


 

Schwerkraft und Gleichgewicht

 

Hohe Berge, tiefe Meere. Extreme. Keine Mittelmaße. Sie beunruhigen, weil die Sinne sie nicht einordnen können. Berge wirken mächtig. Sie ragen in den Himmel und verbinden sich mit ihm und seinen verborgenen Kräften. Verborgen und verbergen leiten sich ebenso ab von Berg wie erheben, erhoben und erhaben. Majestätisch, heilig und bedrohlich. Berg gehört auch zu gebären. Wie die Bauchkontur einer Schwangeren im Profil als Erhebung, Hügel und Berg erscheint, die noch ein zu Gebärendes verbirgt und dann gebiert. Gebirge und Berge sind Bilder der Macht, des Heiligen und Schöpferischen.

Unsichtbar und stumm. Untastbar und ohne Geschmack. Und doch immer da. Die Gravitation. Alles macht sie schwer. Allgegenwärtig im Universum und durch nichts abzuschirmen. Wasser, Berge und Blätter, Organe, Knochen und die Gestalt der Lebewesen unterliegen ihrem Einfluss. Die Schwerkraft wirkt bis hinein in jede Zelle und scheint der Möglichkeit des Extrembergkletterns entgegenzustehen. Doch die Zelle zeigt, dass gerade sie das Extremklettern möglich macht.

Das Schwerefeld zieht alles zum Erdmittelpunkt. Durch das labile Stehen auf zwei Beinen hat jeder Mensch die schwierige Aufgabe, Balance zu halten und Stürze zu vermeiden. Was immer er tut, es kann nur im Gravitationsfeld geschehen. Gegen die Schwere haben Menschen Oppositionen entwickelt – Levitationen wie Geist und Gefühl, Gedanken und Träume: Motivationen, der Schwere ein Schnippchen zu schlagen.

Dem Menschen erscheint seine aufrechte Haltung banal, doch das zweibeinige Stehen mit aufgerichtetem Rumpf, gestreckten Knien und gestreckter Hüfte ist einzigartig im Tierreich. Eine Spezialität, die eine enorme Koordination und ein ständiges Auseinandersetzen mit der Gravitation bedeutet.

Der Mensch ist ein Lauftier und die elementare Form seiner Fortbewegung das aufrechte Laufen in der Ebene. Basis des Stehens, Laufens und Kletterns sind die Füße. Auf ihren feinfühligen Sohlen werden Haltungen und Bewegungen im Schwerefeld entwickelt. Die Fähigkeit, Balance zu halten und Stürze zu vermeiden, hat die Evolution den Menschen als Potenzial mitgegeben, er muss seine Realisierung aber erst erarbeiten. Der Hauptsinn für die aufrechte Haltung ist die Tiefensensibilität. In Muskeln, Sehnen und Gelenken befinden sich Rezeptoren, die ununterbrochen Signale aus der Umwelt und vom Körper empfangen und an das Gehirn weiterleiten, das Stellung, Geschwindigkeit und Kraft des Körpers erfasst. Unablässig entstehen Bilder von der Lage und der Gestalt des Körpers im Raum. Unterstützt durch die visuelle Wahrnemung verfügt der Mensch über ein Schema seiner räumlichen Position und er kann auf Dysbalancen schnell und angemessen reagieren.

Gemeinsam arbeiten Tiefensinn, Fußsohlen und Gleichgewichtsorgan die Beschaffenheit des Bodens in den Organismus ein, eignen sich die Ordnung des Raumes an und geben Orientierung von oben und unten, vorne und hinten sowie links und rechts. Fuß-, Knie- und Rumpfgelenke sind labil gelagert, so dass sich der Körper labil schwingend über den Gelenken aufbaut, kontrolliert von Bändern, Muskeln und Sehnen. Voraussetzungen für das Extremklettern sind körperliche und mentale Balancen.

 

Evolution und Gespür

 

Das Leben beginnt mit der Entstehung der Zelle. Der kleinsten Einheit des Lebens. Ein individuelles Element, das autonom seine vitalen Prozesse wie Nahrungsbeschaffung, Energieerzeugung, Atmung, Bewegung, Vervielfältigung und Reizempfang steuert. So kann eine Amöbe eine andere Amöbe erkennen, verfolgen, angreifen und sich einverleiben. Ohne Gehirn hat sie doch eine Art Erkenntnisorgan. Eine Amöbenerkenntnis. Seit Milliarden von Jahren machen Zellen Erfahrungen und lernen. Sie werten Erfahrungen aus und verfeinern und verbessern sich beständig, bis sie hochkomplexe Einheiten bilden. Trotz ihrer Winzigkeit sind sie gigantische Fabrikkomplexe mit einer Vielzahl von Arbeitsbereichen, den Organellen. Die Zelle trägt ihre Vermögen durch Zellteilungen weiter. Der Mensch besteht aus etwa 50 Billionen Zellen und in jeder Zelle befindet sich dieselbe Anzahl von Atomen – in molekularer Form.

Zellen arbeiten für sich, schließen sich aber auch mit anderen Zellen zu Zellverbänden wie Organen, Organismen und Lebewesen zusammen, so dass die Evolution immer komplexere Zellsysteme entwickelt hat. Sie senden über Signal- und Empfangsmoleküle unablässig Informationen an andere Zellen und Organe, wodurch sie ihr Verhalten in einem Organismus mit anderen Zellen koordinieren. So sind signalübermittelnde Netzwerke entstanden, die es Zellen gestatten, Informationen zu verarbeiten und zu speichern zum Nutzen des Organismus: Leben und Überleben spielen sich auf Zellebene ab (vgl. Rigutti 2008, S. 46).

Die ersten Zellen entstehen im Wasser. Sie entwickeln sich zu Pflanzen wie Plankton und Algen, später zu Fischen. Fische schwimmen, so dass der Auftrieb die Gravitation scheinbar aufhebt. Mit dem Heraustreten aus dem Wasser auf das Land bilden Pflanzen ein tragendes Element aus wie Stiele und Stängel. Im Übergang von den Fischen zu den Amphibien verstärkt sich die Knorpelstruktur und bilden sich Knochen und stärkere Muskeln und Bänder aus.

Im Verlauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Lebewesen nehmen die Funktionen und die Zentralisierung von Zellen, Geweben und Organen zu, was zu einer Differenzierung der Funktionen führt. Eine Spezialität in der Evolution der Wirbeltiere ist die Entwicklung des Rumpfes: von der Horizontalen der Fische über Amphibien, Reptilien und Säugetiere hin zur Vertikalen des aufrechtstehenden Menschen, mit einer Drehung des Rumpfes um 90 Grad.

Da die vermögenden Zellen die Grundlage aller Organismen sind und maßgeblich deren Fähigkeit mitbestimmen, stecken unermessliche Erfahrungen in den Aktionen der Tiere, die ihr Können instinktiv und unmittelbar umsetzen, dennoch zeigt ihr Verhalten einen hohen Grad an rationaler Organisation.

Zellen spüren. Sind auf der Suche nach Nahrung, Energie und Kommunikation. Dieses Spüren hat sich durch Lernen, Speichern und Weitertragen beim Menschen zu einem eigenen Sinnesorgan ausgebildet – zum Gespür. Ein Gewahrsein aller gegenwärtigen Gefühle und Verhaltensweisen, aller aktuellen Impulse aus dem Innen und aller Sinnesreize aus der Umwelt: Diese gesammelte Erfahrung der Evolution lässt sich als Gedächtnis der Menschheit auffassen. Das Vernehmen des Ganzen, das eine Person in einer besonderen Situation ausmacht. Es ist das Meta-Sinnesorgan Gespür, das Menschen in Grenzsituationen – jenseits bewusster und rationaler Steuerung – durch die Aktivierung aller Erfahrungen und Erinnerungen der Zellen und Zellverbände unter Mitarbeit aller Sinne traumwandlerisch sicher durch Gefahren führen kann.

Das ist die Mitgift an alle Neugeborenen. Sie selbst müssen aber noch eine Menge lernen, damit sich dieses Potenzial in ihren Körper gräbt und ihren Geist beflügelt. Der Säugling benötigt Halt gegen die Schwerkraft. Zuerst stärkt er durch das Drehen des Körpers um die Längsachse die Bauch- und Rückenmuskulatur und entwickelt in der Bauchlage das Heben und Halten des schweren Kopfes, um aus der Bauchlage heraus mit dem Krabbeln zu beginnen. Dann stützt er sich seitlich ab, setzt sich auf den Boden und gelangt von da aus nach und nach in den Vierfußstand. Dann erfolgt der Weg allmählich im Dialog mit der Schwerkraft vom Boden in den zweifüßigen, aufrechten Stand, bis sich das Kind kräftig und sicher fühlt und Beine und Füße dem Wagnis des Gehens und Stehens überlässt. Dieses Hineinwachsen ins Schwerefeld erfolgt nach dem Prinzip der Bio-Tensegrity, indem die Druck- und Zugverhältnisse durch Knochen und Bindegewebe eine stabile Einheit bilden. Die Sicherheit im Schwerefeld ist eine Bedingung für jede Bewegung in der Senkrechten.

 

Gedächtnis und Erinnerung

 

Eine Bedingung für das Leben liegt in den Möglichkeiten des Speicherns: DNA, Gedächtnisformen, zusätzliche Zellkerne in Muskelzellen sowie Kultur. Sie machen Leben möglich und geben Orientierung und Sinn. Ohne sie gäbe es nur zusammenhanglos Erlebtes. Speicher sichern Entwicklung, Verbindlichkeit und Identität. Erinnern heißt erlebt haben. Es ist das Wiedererleben vergangener Erlebnisse, das Wissen und Können möglich macht.

Zellen bewahren in der DNA drei Milliarden Jahre alte Informationen, die unablässig durch die Evolution überarbeitet und verändert werden und außerordentlich vielseitig und anpassungsfähig sind. Dennoch behalten alle Zellen ein Kernstück bei, das den Zellen aller „lebenden Organismen auf der Erde, jedem Tier, jedem Blatt, jedem Bakterium in einem Stück Käse …“ gemeinsam ist und „endlos immer weiterarbeitet“ (Alberts 2012, S. VIII).

Das Gehirn enthält unterschiedliche Formen des Gedächtnisses. Unpersönliches wie Fakten bewahrt das semantische Gedächtnis, etwa die Tatsache, dass dieser Text Buchstaben verwendet. Persönliche Erlebnisse werden im episodischen Gedächtnis bewahrt. Ihre Spuren sind im gesamten Gehirn verbreitet. Ein Erlebnis reizt bestimmte Neuronen (Nervenzellen), die ein Neuronen-Netz bilden. Ein Netz ist umso leichter abrufbar, je tiefer das Gefühl war, das das Erlebnis begleitete, weil das Netz häufiger und stärker aktiviert wurde. Eine Erinnerung entspricht einer besonderen Neuronen-Kombination. Persönliche Fähigkeiten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen speichert das prozedurale Gedächtnis, die im Alltag vorkommen und aus automatisch ausgeführten Handlungen bestehen. Sie müssen nicht ins Bewusstsein treten, wie die Fähigkeit, Balance zu halten. Auch Muskeln haben ein Gedächtnis. Durch Training bilden sie zusätzliche Zellkerne, die den Muskeln zusätzliche Proteine und damit Kraft geben. „Wir gehen davon aus, dass die zusätzlichen Kerne wie eine Art Gedächtnis funktionieren. Sie bleiben in den Muskelfasern“ (zitiert nach Gundersen) für Monate erhalten. Nach längerer Pause bauen sich die Muskeln rasch wieder auf. Deshalb ist das Training der Muskulatur der Hände und Finger eine lebensnotwendige Voraussetzung für das Klettern in der Senkrechten.

 

Das Kosmische im Extremklettern

 

Menschen treibt Sehnsucht an. Sie werden sesshaft, haben Technik und Industrie, Wissenschaft, Philosophie, Raumfahrt und Extremsportarten entwickelt. Dazu mussten sie Risiken eingehen, denn jede Erneuerung bedeutete auch das Infragestellen des Gewohnten und das Ausloten eigener Grenzen. Eine besondere Sehnsucht ist das Streben in die Höhe: die Hinwendung zur Sonne, die Freude am partiellen Überwinden der Gravitation, das Erklimmen schwieriger Berge und die Meisterung der Angst.

Für das Ausschöpfen des gesamten Erfahrungsschatzes der Evolution ist Extremklettern eine ausgezeichnete Tätigkeit: von DNA, Erinnerungsvermögen und Kultur, von Fertigkeiten der Zelle, emotionalen und geistigen Phänomenen. Diejenigen, die extremklettern, müssen Körper und Geist in einem langjährigen Formungsprozess auf das Extreme einstellen, um sich die erforderlichen Fertigkeiten anzueignen. Sie trainieren Muskeln, aber auch ihre Zellen und ihre Organe, ihren Geist und ihre Emotion. Sie trainieren so lange, bis eine Aufgabe ausgeführt werden kann. Beim Klettern werden extreme Routen erst mit sicherndem Equipment geklettert: sie werden kletternd analysiert, wiederholt, gefestigt, nochmal memoriert, bis alle Haltungen, Kräfte, Bewegungen die Kondition dem Vorhaben entsprechen. Erst dann werden sichernde Systeme weggelassen und die Route ohne Seil durchklettert.

Menschen vermögen unendlich viele Haltungen einzunehmen und Bewegungen auszuführen. Sie können ohne zusätzlichen Sauerstoff die höchsten Berge erklimmen, das 1,3-Fache ihrer Körpergröße überspringen, mit einem Stab das 3,4-Fache, 130 Meter in die Tiefe tauchen und dabei 4 Minuten die Luft anhalten, beim Eiskunstlauf Vierfachsprünge machen, in Spezialanzügen über vier Minuten horizontal fliegen und senkrechte glatte Wände erklettern.

Wer sich in einer vertikalen Felswand befindet, kann immer wieder in Grenzsituationen geraten, deshalb muss er alles, was Leib, Geist und Gefühl vermögen, mobilisieren können. Erfahrungen müssen präzise erinnert und erforderliche Bewegungen ausgeführt werden, die nötige Kraft und Kondition müssen vorhanden sein, die Logistik ebenso wie die nötige mentale Stärke. Oft müssen Ratio und Emotionen gebremst, und dem Gespür die Führung überlassen werden, dem Vermächtnis der Evolution, weil es Erfahrungen und Erinnerungen am komplettesten, sichersten und präzisesten versammelt. Das bedeutet das gelungene Zusammenwirken von Erfahrung, mentaler Lockerheit, Erinnerung und Achtsamkeit, das Helga Peskoller den basalen Sinn des Menschen nennt (Peskoller 2001, S. 218). Das gilt besonders, wenn es um das Risiko schwerer Verletzungen oder um Leben und Tod geht. Das Gespür ist so wertvoll, weil Präzision und Sicherheit des Handelns nicht nur in den Gedächtnisstrukturen des Gehirns liegen, sondern in den Erfahrungen der Zellen – dem Leib –, die diese Erfahrungen in das Ganze, den Menschen integrieren. Insofern ist das Ausüben einer Extremsportart ein kosmisches Tun, indem alles, was das Universum bis dahin zu bieten hat – Phänomene wie Atome und Zellen, wie Organismen, Lebewesen und Geist, wie Emotionen und Kultur – tatsächlich zum Einsatz kommen.

 

Berge und Felswände als Partitur

 

Bergsteigen ist eine Fortbewegungsart, fort und hoch in die Vertikale. Das bedeutet, dass die sichernde Basis, der Erdboden, verlassen wird. Beim Bergsteigen sind Gravitation und Körpergewicht wesentliche Faktoren. Das Gewicht kann nicht überwunden, sondern nur in eine neue Relation von Kräften, in ein neues Kräfteparallelogramm überführt werden, indem ein Teil der vertikal wirkenden Kräfte etwa durch Stemm- oder Spreiztritte, die Reibung der Schuhe und die Arbeit der Hände in die Horizontale umgelenkt wird.

Diejenigen, die in der Vertikalen klettern, bleiben doch der Horizontalen verbunden. Felswände bestehen vielfach aus winzigen waagerechten Stufen, auf denen sie, einer Ballerina gleich, sich auf kleinsten Partien der Felswand mit ebenso kleinen Partien des Fußes bewegen müssen. Deshalb erfordert Bergsteigen eine Differenzierung des Stehens und Gehens. Auf dem Boden steht der Mensch mit Fersen, Ballen, Zehen und Fußaußenlinien. Wenn er sich in die Vertikale begibt, muss er die Trittpartien des Fußes enorm differenzieren können.

Wer klettert, macht Berge und Felswände zum Fußboden, indem er die Ebene virtuell um 90° dreht und sie dann, auf allen Vieren beschreitet. Dabei versucht er so gut als möglich alle Kräfte in der Vertikalen zu minimieren. Die horizontale Ebene ist nun die vertikale Wand. Natürlich wirkt das Gewicht in seinem ganzen Ausmaß nach unten, doch durch die Differenzierung der verschiedenen Auflagepunkte der Füße und Hände sowie eine dynamische Technik, wird es möglich, eine vertikale Felswand zu erklettern. Da die winzigen horizontalen Stufen der Felswand den Füßen keinen ausreichenden Halt bieten und der Körperschwerpunkt außerhalb der Kante der Trittfläche liegt und Hebelkräfte entstehen, ist der Einsatz der Finger wesentlich.

Wer in einer Felswand klettert, muss eine neue Balance des Stehens entwickeln. Dazu muss er sich so gut als möglich an den Berg anschmiegen und sich wie ein Reptil auf allen Vieren die Wand emporbewegen. Es bedarf der Leichtigkeit, der Levitation – ein geringes Körpergewicht, Training mit Zusatzgewichten, eine mentale Lockerheit und das Arbeiten mit Horizontalkräften.

Für das Extremklettern ist die unbewusste Mitarbeit von Körper und Erinnerung ein entscheidender Faktor. Wer extremklettert, muss in der Vertikalen mental geerdet sein wie in der Ebene, denn in der Vertikalen liegen Leben und Tod nah beieinander. Im Free-Solo-Klettern darf es nicht einen einzigen Fehler geben. In seinem Buch Die Angst. Dein bester Freund macht Alexander Huber die Angst zum entscheidenden Sicherheitsfaktor. Sie ist es, die ihn sichert.

Hauptwerkzeug des Kletterns sind für Wolfgang Güllich die Finger. Sie halten das Körpergewicht in die Horizontale. Mit den Fingern mehr als das Körpergewicht halten können, sind notwendige Voraussetzungen für jedes Extremklettern. Für ihn kommen hinzu: spezifische Übungen für spezifische Beanspruchungen und präzise Kenntnisse der Klettersituation. Nach der Erstbegehung der Route Seperate Reality sagt er: „Schließlich habe ich jetzt alle erdenklichen Routineinformationen, bin mit jedem Bewegungsdetail vertraut, kenne exakt die konditionelle Belastung“ (Güllich 1987, S. 38). Das sind Bedingungen, die das Extremklettern zum Sport machen. Ebenso zu einer Lebenshaltung, weil es eine nichtentfremdete Tätigkeit sei, die frei mache. Er klettere, weil es Spaß macht. Es gehe um das Wie: „Du suchst ein Stück Fels mit dem höchsten Schwierigkeitsgrad und darin den Weg des geringsten Widerstandes“ (Hepp 1993, S. 67).

Felswände haben ihre Routen in Form von Tritt- und Griff-Abfolgen, Überhängen, Rissen und Distanzen zwischen Haltepunkten. Sie bilden eine Partitur, die zu durchklettern eine Choreografie ist – eine Inszenierung von Bewegungsfolgen. Choreografien sind Raum-Zeitordnungen in künstlerischen, beruflichen oder sportlichen Bewegungsinszenierungen.

Extrembergsteigen ist Choreografie in der Vertikalen. Das macht es zum Abenteuer, zu Grenzerfahrungen und zum Risiko. Kräfte der Gebirgsentstehung, Wetter und Klima haben Partituren in Berge und Felswände gezeichnet, die kletternd gefunden und in eine Kletterchoreografie überführt werden. „Über Wochen“, schreibt Alexander Huber, „war ich damit beschäftigt, wie ein Kunstturner an der Choreografie meiner Kür zu arbeiten, sie zu perfektionieren, um schließlich alles fehlerfrei durchturnen zu können“ (Huber 2020, S. 46f.). Dabei folgt er kletternd nicht schematisch der in der Felswand liegenden Partitur, sondern Erfahrung und Kreativität schreiben die Notation beim Klettern in die eigene Choreografie um. Individualität wie Körpergröße und Gewicht, Kletterfähigkeit, die Qualität der Vorbereitung, Logistik und die mentale Verfassung spielen eine bedeutende Rolle. Wie sich die Musik im Takt von Note zu Note bewegt, wird eine Felswand in einem stetigen Fortgang von Haltepunkt zu Haltepunkt mit Händen und Füßen, Fingern und Zehen, mit Ausdauer, Konzentration, Vorsicht sowie großem Willen, mentaler Gegenwärtigkeit und Freude geklettert, ein Vorgang, an dem die Evolution bis zur einzelnen Zelle mitarbeitet.

In extremen Klettersituationen wird dem Menschen alles abverlangt. Neben den persönlichen und bewussten Fähigkeiten wie Muskelkraft, Kondition und Beweglichkeit, wie die emotionale Verfassung, mentale Stärke und die exakte Kenntnis eines Vorhabens wirken mit derselben Wichtigkeit die unbewussten Bedingungen wie die Zustände der Zellen, der Organe, des Bindegewebes, des Gehirns und seiner Neuronen. Nicht einzelne Elemente für sich, sondern alle gemeinsam im Dienst des Klettervorhabens. Insofern geht es um das Dazwischen, um das, was zwischen diesen Einzelelementen liegt und sie miteinander verbindet. Eine Betrachtung ohne den Dualismus von Geist und Materie, sondern die Art weiser Frauen und alter Schamanen. Wer klettert, kommt in Kontakt mit dem Berg und mit sich selbst, schafft eine Distanz zum Alltag, zu einer Welt der Oberflächlichkeit, der Ablenkung und des Konsums. Am Berg sind Konzentration, Sammlung und Tiefe gefordert. Helga Peskoller umschreibt das Dazwischen mit „über den Körper hinaus“. Das gilt auch umgekehrt: über Bewusstsein und Geist hinaus. Extremklettern gibt es nur aufgrund all dieser Vermögen: die Fähigkeiten der Milliarden Jahre dauernden Erfahrungen von Zellen und Zellverbänden sowie durch die gezielte und bewusste individuelle Arbeit an Körper und Geist der Kletternden: ob bei Expeditionen auf extrem hohe Berge oder beim Klettern in vertikalen Felswänden.

 

 


Literatur/Quellen

Alberts, B./Bray, D./Hopkin, K./Johnson, A./Lewis, J./Raff, M./Roberts, K./Walter, P. (2012): Lehrbuch der Molekularen Zellbiologie. Weinheim.

Gundersen K., zitiert nach http://www.deutschlandfunk.de/das-gedaechtnis-der-muskeln.676.de.html?dram:article_id=27682

Güllich, W. (1987): Separate Reality. In: Der Bergsteiger & Der Bergwanderer, Jg. 54, Hft. 5.

Hepp, T. (1993): Wolfgang Güllich. Leben in der Senkrechten. Eine Biographie. Rosenheim.

Huber, A. (2020): Die Angst. Dein bester Freund. Salzburg, München.

Peskoller, H. (2001): Extrem. Wien, Köln, Weimar. Rigutti, A. (2008): Physiologie des Menschen. Klagenfurt.

 

 

 

 

© Hajo Eickhoff 2021                                         

 

 


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