Kontakt
555-555-5555
mymail@mailservice.com

aus: Doris Paschiller und Hajo Eickhoff. In: Polt-Heinzl, Evelyne/ Steinlechner, Gisela (Hrsg.), Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte, Wien 2007

 


Arthur Schnitzler und

der Reigen der Gestelle

 


Die Setzung des Bürgers


Ich gehe über die Straße wie ein Sitzender.

Fernando Pessoa





Der Mensch, der sich sesshaft werdend im Universum einrichtet, erfindet Gestelle, in denen er sich halten kann. Wo einst der geweihte Erdboden als Lager diente, erhebt sich langsam ein Gestell. Zunächst ist nur ein Fell zu sehen, später ein Kasten, eine Truhe, schließlich ein Bett. Davor hat der Mensch Häuser gebaut. Begrenzte, überschaubare Räume, die das Universum gliedern, was sich in seiner Seele bemerkbar macht. Da die Seele das Universum in sich trägt, kann der Mensch später bewegliche – tragbare, schwimmende und fliegende – Häuser erfinden und bestuhlen.

 Wie das Bett aus dem geweihten Boden, gingen Tisch und Stuhl als Altar und Thron aus dem Opferstein hervor. Der Opferstein barg das Menschenopfer. Der Altar nahm das Tieropfer auf, der Thron erhob den König, dessen Opfer das unbewegliche Sitzen ist. In der thronenden Haltung nahm er die physische Anstrengung der Spiritualität auf sich und entfaltete geistige Kräfte.


Gestelle formen den Menschen, indem sie ihm Grenzen der Beweglichkeit auferlegen. Das herausragende Gestell als Werkzeug für die Dis­ziplinierung und Ruhigstellung des Menschen – und zum Zwecke einer pro­duktiven, geistigen Entwicklung – ist der Stuhl. Dieser formt schließlich den Bürger. Sind Gestelle zunächst geweihte Objekte, entnommen einer göttlichen Ordnung, werden sie später profan, indem das Bürgertum als politische Klasse den Thron demokratisiert.

 Wenn wir nun einen Exkurs zu den Gestellen Arthur Schnitzlers unternehmen, des Autors des Stückes Reigen, des Dichters der Monolognovellen Leutnant Gustl und Fräulein Else, so setzen wir uns mit einem Mobiliar auseinander, das einen symbolischen Raum bildet, in dem sich die Wahrheit über den Bürger ausbreiten soll. Das Mobiliar ist vom Dramatiker als Bühnenrequisit gedacht, vom Dichter als Bestandteil des Lokalkolorits im inneren Monolog der Figuren untergebracht. Für diesen Bürger verbinden sich am Ende des 19. Jahrhunderts Wahrheit und Sexualität miteinander, die er mit Leidenschaft zu erforschen beginnt. Dabei lüftet seine Wahrheitsforschung das Geheimnis der Triebnatur des Menschen. Ein Ausdruck davon ist die um 1900 erscheinende Traumdeutung von Sigmund Freud: Der Bürgermensch ist nicht der, der er zu sein vorgibt. In der Wahrheit seines Geschlechts ist er ein determiniertes und seinem Trieb unterworfenes Wesen. Aber das ist nur Teil seines Traumas. Politisch erfährt sich der Bürger, der die Gleichheit aller Menschen propagiert und sich selbst als allgemeinen Menschen setzt, als gescheitert. Denn das Gegenteil von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit ist sein Fall. Die sichtbare Ungleichheit konfrontiert ihn mit seinem politischen Versagen. Dem Makel der Heuchelei wird er sobald nicht entrinnen.

 Der bürgerliche Schriftsteller, so auch Schnitzler, geht nun daran, die Heuchler zu entlarven. Er lässt sie thronend erscheinen: mit einem Sitz in der Gesellschaft und dem Bett als Altar der Wahrheit. Mit einem Mobiliar also, das der Bürger vom Adel übernommen hat. Möbel sind geweihte Objekte, mit denen sich der Mensch ins All einrichtet und seiner Seele Halt gibt. Als geweihte Objekte enthüllen sie aber auch die Leere des Bürgers. Die Geste eines thronenden Bürgers ist eine leere Geste, weil er sie dem Adel entlehnt, nicht aber aus der Kultur der Bürgerlichkeit entwickelt hat. Die Throngeste ist leer wie seine Parole von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.


Reigen der Liegen


Im Jahre 1903 veröffentlichte der Architekt Adolf Loos in der Zeitschrift Kunst das Foto des Schlafzimmers, das er für seine Frau, Lina, entworfen hatte. Dieses Schlafzimmer, ganz mit weißem Batist und weißen Angorafellen ausgekleidet, wurde mit einem Thronsaal, einer Bühne, einem Schrein verglichen. Was soll das bedeuten, wenn nicht Thron, Bühne und Schrein der Sexualität, wenn nicht Weihe einer sexuellen Beziehung. Lina Loos aber brach in diesem Schlafzimmer die Ehe und löste einen gesellschaftlichen Skandal aus, der Schnitzler zu einem Stück anregte.

 Der Reigen war zu dieser Zeit jedoch schon geschrieben. Und die Sexualität des Bürgers hatte hier schon die Weihen der Wahrheit erhalten, während ein Reigen der Betten und Liegen sie auf der Bühne symbolisieren sollte. In allen Szenen des Reigen hat Schnitzler eine sexuelle Vereinigung von Mann und Frau vorgesehen, die natürlich nicht wirklich stattfindet, sondern für die er einen Halt inszenierte, etwas, woran man sich lehnen und worauf man sinken kann und das den Zuschauer schließlich in Sicherheit über das wiegt, was die Schauspieler nur anzudeuten haben.

 Schnitzler beginnt den Reigen so, als zeichne er die Entwicklung des Bettes nach. Der Reigen wird auf dem Erdboden eröffnet, wo auch der Ausgangspunkt des Bettes ist. Die Böschung des Donauufers, auf der es geschieht zwischen Dirne und Soldat, wird am Ende eines Weges erreicht, auf dem auch eine Bank hätte gefunden werden können, die der Frau lieber gewesen wäre, ein Gestell, das schon ein Mehr an gesellschaftlicher Anerkennung bedeutet hätte. Der Boden stellt das Unten der Hierarchie dar. Wenn nun der Reigen ins Interieur eintritt, befindet man sich bereits in der gehobenen Gesellschaft, bei einem angehobenen Akt, in dem ein Stubenmädchen und ein junger Herr zusammenfinden werden. Dem Zuschauer wird jedoch sofort der von Schnitzler angewiesene Diwan ins Auge fallen, denn er ist jetzt, nach Uferböschung und Prater soweit im Bilde, dass er weiß, worauf das Gestell, auf dem zuerst nur der junge Herr lümmelt, wartet. Der Diwan, bereits Zeichen geworden, nimmt den sexuellen Akt vorweg und dient Schnitzler als Sinnbild für den Akt selbst. Gleichzeitig soll vermieden werden, dass man sich, wie etwa Adolf Loos, zu diesem Bild bekennt. Der Diwan bietet ja immer die Option, Ruhelager zu sein oder Sitz. Auf dem Diwan kann man aber leicht von der disziplinierten Haltung des Sitzens – in der man den Sex als Möglichkeit offen hält – auf die freiere Haltung des Lagerns übergehen, sich von da aus in eine kurze Ekstase fallen lassen und anschließend so tun, als wäre nichts geschehen.

 Keines der von Schnitzler angewiesenen Betten drückt eine öffentliche Fei­erlichkeit aus, auch nicht das Himmelbett der Schauspielerin, das von der Vorstellung des Kosmos inspiriert ist, ebenso wenig wie das Bett der Eheleute. Denn der Reigen, bei dem der Sex wie ein Staffelstab von einer Hand in die andere gegeben wird, ist eine geheime Veranstaltung. Donauufer, Prater, Diwan, Cabinet particulier, Hotelbett, selbst das Dirnenbett, in dem die Dirne nur schläft, während der Herr auf dem Diwan geblieben ist, haben die Aufgabe, zu verbergen und unschuldig in Erscheinung zu treten. Sie sind verschlossen. Das Ehebett, in dem die beiden Ehegatten – das einzige reguläre Paar des Reigens – zusammenkommen, wird vom Moralpredigen verschlossen, von Lüge und Schein. Das Ehepaar bildet den Höhepunkt der Verlogenheit. Das bürgerliche Bett, das Heiligtum der Sexualität, entwickelt sich vom Altar der Wahrheit zum Schlupfwinkel der Heuchelei.


Ein Sitz im Kaffeehaus


Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich zu einer Sitzgesellschaft formt, wird der Stuhl zu einem ihrer Regelwerke. Sitzen ist Pflicht und Recht und der Bürger verlässt die einmal erreichte Haltung nicht gerne. Zum einen bewegt er sich auch unterwegs nur von Sitz zu Sitz, zum anderen sind Sitze Plätze in der Gesellschaft, die der Bürger besetzt zu halten sich bemüht. Gegenwärtig verfügt der Mensch hoch technisierter Gesellschaften potenziell über etwa vier Dutzend Sitze.

 In den beiden Novellen Fräulein Else und Leutnant Gustl lässt Schnitzler im inneren Monolog der Figuren als bedeutenden Gesellschaftsort einen Sitz im Speisesaal eines Hotels beziehungsweise in einem Wiener Kaffeehaus erscheinen. Das Kaffeehaus war eine Gegenbewegung zum adligen Salon. Es hatte sich in einer Zeit, da Europa ausschließlich aus Monarchien bestand, zum öffentlichen Forum des Bürgertums entwickelt. Die Kaffeehäuser waren geistige Mittelpunkte des kulturellen Wien. Schnitzler selbst verkehrte im Café Griensteidl, wo die Gruppe „Junges Wien“ gegründet wurde. Und es waren zugleich die Orte, an denen der erste Massenstuhl auftrat, der Wiener Kaffeehaus-Stuhl von Michael Thonet: 1857 war das Kaffeehaus Daum mit Thonetstühlen eingerichtet worden. Die Funktion des Kaffeehauses als ein politischer Raum kam darin zum Ausdruck, dass man es auch „Zweites Parlament“ nannte. Der Sitz im Kaffeehaus war für den Bürger ein respektabler Ort in der Öffentlichkeit.

 Schnitzler lässt nun beide Protagonisten durch eine sie plötzlich ereilende Schande von solch einem respektablen Ort isolieren und an einen anderen werfen, ähnlich jenem im Märchen, der nach der Durchquerung eines Brunnens oder eines Spiegels erreicht wird und der eine Schattenwelt darstellt. Beide erwachen nach der Durchquerung eines Traumas auf einer Bank im Freien und finden sich außerhalb der Gesellschaft wieder.

 Gustl, ein Kleinbürger und Leutnant im Dienste seiner Majestät resümiert, dass er in eine Art Obdachlosigkeit geraten ist. Begonnen hatte der Abend auf einem Sitz im Konzertsaal. Dort im Foyer hätte er auf den Bäckermeister reagieren müssen, mit dem er in eine Rangelei geriet, der ihn darauf beleidigte und auch noch sein Statussymbol, den Säbel festhielt und gar sein Zerbrechen androhte. Aber er hatte nicht angemessen reagiert. Ohnehin wäre der Bäcker nicht satisfaktionsfähig gewesen.

 Nachdem er das Konzerthaus in innerem Aufruhr verlassen hat, müsste er sich gewohnheitsgemäß auf den Weg zu einem nächsten Sitz machen. Aber er spürt, dass er in seiner Schande in keines der öffentlichen Häuser mehr einkehren und keinen jener Stühle mehr besetzen kann. Nicht beim Nachtmahlen im Restaurant, nicht im Kaffeehaus, wo im Übrigen auch der Bäckermeister seinen festen Sitzplatz hat. Ohne bewusste Absicht, umkreist von seinem Gedankenfluss, zieht es ihn durch die Stadt zu einer Bank im Wiener Prater. Diese Bank scheint, seiner Situation angemessen, der einzig mögliche Sitz für ihn zu sein. Hier will er seine Gedanken ordnen und den kreisförmigen Bewusstseinsstrom auf ein Ziel richten – auf seinen Selbstmord. Er legt Ort, Zeit und Waffe fest sowie vorletzte Notwendigkeiten, wie die Regelung einer Schuldbegleichung. Die Bank beruhigt ihn, er schläft sogar darauf ein. Nach dem Erwachen – wieder auf unbestimmtem Weg durch die Stadt – hat er plötzlich den Einfall, doch wieder ins Kaffeehaus zu gehen. Denn er will, dass die Leute sich erinnern, dass sie ihn dort zum letzten Mal gesehen haben, bevor er sich erschießt, er will öffentlich einen verborgenen Abschied nehmen.

 Hier wendet sich, wie wir wissen, das Blatt, indem er erfährt, dass der Bäckermeister gestorben ist und noch nichts von dem Vorfall weitererzählt haben kann. Gustl kann sich nun so verhalten, als hätte er innerlich niemals seinen Sitz im Kaffeehaus aufgegeben.


Der leere Platz im Speisesaal


Weniger glücklich geht die Geschichte der Isolierung vom respektablen Sitz in der Öffentlichkeit für Schnitzlers Fräulein Else aus. Die neunzehnjährige Dame der Wiener Gesellschaft bewegt sich an ihrem Ferienort in San Marino di Castrozza mit Aussicht auf den Berg Cimone auf ihren festen Platz im Speisesaal zu, als sie vom Schicksal getroffen wird, in Form einer Depesche, die sie von den Eltern erhalten hat. Sie spürt sofort die Katastrophe, die augenblicklich auf sie zurollt und schert – so scheint es – vorauseilend aus der Sitzkonvention aus: In ihrem Zimmer setzt sie sich auf das Fensterbrett – nicht auf den Fauteuil. Mit Blick auf den Berg, den leeren Sitz der Götter, von denen keine Rettung zu erwarten ist, beschließt sie, zu handeln und den Vicomte anzusprechen, von dem sie nach der Bitte der Eltern Geld borgen und so den Vater vor dem Ruin retten soll. Sie passt den Vicomte in der Halle ab und verlässt mit ihm das Hotel für einen Spaziergang. Der Weg führt sie zu einer Bank am Waldesrand. Und es wird immer klarer, dass sie ihren Sitzplatz im Speisesaal, für den sie sich die ganze Zeit vorbereitet hat, nicht mehr einnehmen wird. Als der Vicomte seine Gegenforderung formuliert – er will Fräulein Else unbekleidet sehen –, gerät dieser Platz in der Gesellschaft außer Reichweite. Dafür taucht die Bank immer wieder auf, am Waldesrand, am Fuße des Berges, im Schatten der Gesellschaft. Das Hotel leuchtet von Ferne wie ein ferner Stern. Zunächst nähert Else sich umhergehend immer wieder dem Hotel und der Dinnertafel. Sie denkt an die anderen, die bereits beim Essen sitzen. Dann nimmt sie am Waldesrand Platz – in akuter Not, herausgefallen und suizidal.

 Die Bank, Elses Bank am Waldesrand ebenso wie die Bank im Wiener Prater, auf der Gustl einschläft, wird von Schnitzler jeweils an den Tod gebunden. Beide sind auf einer Bank draußen in freier Luft mit ihrem Tod beschäftigt. Else stellt sich vor, wie sie als Leichnam aufgebahrt ist. Dann schläft sie, wie Gustl, ein und träumt, sie wäre ein totes Mädchen. Die Bank, das schmale Terrain des Obdachlosen, ist der Ort des kleinen Todes zu Lebzeiten – des gesellschaftlichen Todes. Die Bank ist wieder Tisch, Opfertisch – wie im archaischen Opferstein.

 Aber auch Else kehrt zurück ins Hotel, wie Gustl ins Kaffeehaus. Auch sie hat wie er öffentlich noch etwas zu erledigen. Ihr leuchtet das Hotelgestell als eine Bühne ein, die dazu da ist, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Dies ist die Erkenntnis ihrer Suche nach den Modalitäten, sich dem Vicomte nackt zu zeigen: im Zimmer des Herrn oder draußen auf einer Lichtung im Auge Gottes. Indes haben die Eltern in einer zweiten Depeche einen erhöhten Geldbedarf mitgeteilt.

 Während Else sich ein tödliches Getränk zubereitet, entschließt sie sich zu dem Auftritt vor den Augen der Hotelgäste – im Lichte der Vernunft. Die Waldeslichtung als Symbol einer allgemeinen Wahrheit ersetzt sie durch die Lichtung inmitten der Gesellschaft als Symbol einer schonungslosen, nackten Wahrheit. Nackt unter ihrem Mantel verlässt sie das Zimmer. Das Dinner ist längst vorüber, doch die Gesellschaft sitzt noch im Musikzimmer. Dorthin geht Else und wirft den Mantel ab. Aufruhr entsteht und man bezichtigt sie einer Krankheit – der Hysterie. Dabei inszeniert sie sich exakt als Opfer der Gesellschaft, bevor sie tatsächlich in eine Art hysterischen Dämmerzustand fällt, in dem sie vielleicht ihren bevorstehenden Tod imaginiert. Im selben Augenblick wird Else der Sitz in der Gesellschaft verboten, auf den sie intuitiv schon selbst verzichtete: Die Tante würde es ablehnen, mit ihr in einem Abteil zu reisen und ihr vermutlich stattdessen ein Bett in einer Anstalt verordnen. Else trinkt da lieber das Glas mit dem Veronal. Wer in der bürgerlichen Gesellschaft keinen Sitz mehr hat, hat eigentlich kein Leben mehr.

 Dass er zu einem permanent Stuhlsitzenden geworden ist, dessen Physis die des Sitzens ist, auch wenn er geht und steht, wie Pessoa sagt, macht den Stuhl zu einem starken Zeichen des Bürgers – seiner Macht, seiner Disziplin, seiner Psyche. Es wäre eine interessante Untersuchung, wie oft das Bühnenbild in den Aufführungen Schnitzlerscher Stücke den Stuhl auf die Bühne bringt. Erst kürzlich war das zu sehen im Berliner Gorki-Theater in der Inszenierung von Arthur Schnitzlers Das Weite Land: nur eine abschüssige Fläche und Stühle. Wie der Thron für den König, steht der Stuhl für den Bürger.




© Hajo Eickhoff 2007




Share by:
google-site-verification: googleb24ea1bbee374379.html