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aus: Bohunovsky-Bärnthaler, Irmgard (Hg.), Vom Reisen, Weggehen und Sitzenbleiben, Klagenfurt 2002


Stürzen Laufen Sitzen

Von den Arten menschlichen Unterwegsseins

 

 



Der Mensch ist ein Lauftier. Sein Unterwegssein auf dem Fuß ist Teil der Evolution und setzt das Rinnen, Rotieren und Pulsieren des Alls mit völlig neuen Mitteln fort – mit Kultur und Geist. Vorgestellt werden unterschiedliche Formen des Reisens und ihre Wirkung auf die Kultur. Es gibt reale Reisen der Sippen und Stämme, der Individuen, ganzer Kulturen und mythische und geistige Reisen. Doch der Mensch begann früh, sich gegen das stete Unterwegssein zu stemmen und Reisehemmungen zu erfinden. Und gerade sie haben sich als die stärksten Elemente der Kultivierung erwiesen. Etwa die Sesshaftwerdung mit Haus und Stuhl. Die Menschen der hochtechnisierten Welt haben auf einem langen Weg das Unterwegssein auf dem Fuß in ein technisches und geistiges Reisen umgewandelt. Sie haben die Füße durch Räder, Ku­fen und Flügel ersetzt, durch virtuelle Datenbahnen und einen beweglichen, abstrakten Geist. Konsequenterweise gehen sie pro Tag nur noch etwa 800 Meter zu Fuß. Dabei haben sie verlernt, die Signale ihres Leibes zu deuten: sie haben den Kompass für ihre sinnliche Orientierung verloren und ihr be­weglicher, verfeinerter Geist ist spröde geworden. Doch jeder neue Mensch ist Hoffnungsträger, denn mit ihm kommen ein Paar Füße auf die Welt, die den Boden berühren, sich aufstellen und sich auf die Reise machen – zu Fuß.


 

 

Unterwegssein

Der Mensch ist ein rastloses Wesen. Immer auf dem Fuß. Immer unterwegs. Ein Lauftier. Sein Unterwegssein auf dem Fuß ist seine elementare Erfahrung, sein zweifüßiger Gang ein Hauptmerkmal seiner Fortbewegung. Immer ist der Mensch mit Ortsveränderungen befasst, immer auf der Reise. Im Unterwegssein ist er keinem Ort verhaftet, sondern lebt im Horizont der Passage. Wie er unterwegs ist, so ist er: so geht er, so hält er seinen Leib, so verhält er sich, so ist sein Fühlen und Denken. Unterwegssein ist das permanente Heraustreten aus einem jeweiligen Standpunkt. Mit der Verlagerung des Gewichts von einem Bein auf das andere verändert der Mensch seinen geistigen Standpunkt und erschließt sich praktische, ideelle und emotionale Lebensräume. Die Füße tasten die Physiognomie der Erdoberfläche ab. Ohr, Tiefensensibilität und Fußsohle holen die Gestalt, die Beschaffenheit der Erde und ihr Druckprofil in den Organismus herein und machen das Reisen zu einer unmittelbaren und intuitiven Form der Erkenntnis, der Erfahrung. Über die Sinnestätigkeit und die inneren Organe aktiviert das Laufen den gesamten Organismus. In seiner individuellen Geschichte wiederholt der Mensch die phylogenetische Entwicklung der Wirbeltiere vom Fisch zum Menschen. Das Laufen, das der Fähigkeit des Stehens vorausgeht, ist eine Verhinderung des Stürzens. Beim Erlernen der Aufrichtung provoziert das Kind einen Sturz, den es abzufangen versucht, indem es die Beine unter den nach vorne geworfenen und fallenden Rumpf schiebt und erprobt, wie es den eingeleiteten Sturz in eine Vorwärtsbewegung umlenken kann. Gehen ist ein unablässig aufgefangener Sturz in der Vorwärtsbewegung.

Menschen sind Emotionen der Erde. Das aus ihr Herausbewegte. Emovere. Absonderungen. Lebende Fühler zum All. In ihnen hat sich die Erde ein Werkzeug geschaffen, das ihr terrestrisches Wesen in ein extraterrestrisches Dasein überführt. Lebewesen sind ein erster Abschied, ein Abscheiden von der Erde. Über Fußsohle und Erdoberfläche gehören Mensch und Erde noch zusammen, aber dem Menschen ist die Möglichkeit zur endgültigen Trennung gegeben. In unterschiedlichen Formen trägt die Erde den Menschen. Sie bietet ihm Widerstand, den er zur Bewegung und Vorwärtsbewegung benötigt. Sie widersteht ihm und er steht gegen sie, steht auf ihr und betritt sie. Für John Cowper Powys ist es so, „als ob die Erde in ihrem tiefen planetarischen Masochismus einen Genuss daran fände, beschritten zu werden.“ Die Arten des Unterwegsseins auf dem Fuß sind vielfältig: Bummeln, Eilen, Fahren, Fegen, Flanieren, Flitzen, Flüchten, Gehen, Gondeln, Hasten, Hetzen, Hinken, Huschen, Jagen, Joggen, Latschen, Laufen, Marschieren, Pesen, Pilgern, Pirschen, Preschen, Promenieren, Rasen, Rennen, Sausen, Scharwenzeln, Schlendern, Schliddern, Schlittern, Schlurfen, Schreiten, Schwanken, Schweifen, Spazieren, Sprinten, Spurten, Staken, Staksen, Stampfen, Stapfen, Stelzen, Stiefeln, Stolpern, Stolzieren, Straucheln, Streifen, Stürzen, Tappen, Tapsen, Taumeln, Tippeln, Torkeln, Traben, Trampeln, Trollen, Wallen, Walzen, Wandeln, Wandern, Waten, Watscheln, Wetzen, Zotteln. Fußsohle und Erdoberfläche sind zwei aufeinander abgestimmte, sich ergänzende Hautflächen, die den Fußtritt zum Mittel menschlicher Erfahrung machen und das Unterwegssein des Menschen einreihen in die Bewegtheit des Seins.

Sein ist Unterwegssein. Ist Ortsveränderung und Bewegung. Galaxien dehnen sich, Planeten kreisen auf ihren Bahnen, Menschen erschließen ihren Planeten als Territorium und streben nach galaktischen Räumen, Tiere suchen auf ihren Wanderungen nach Nahrung, Pflanzen wachsen, blühen und breiten sich aus, und die kleinsten Bausteine, die Atome befinden sich in permanenter Bewegung und Rotation. Die Bewegtheit des Lebens hat seine wesentlichen Elemente im Stoffwechsel und in der Fortpflanzung, in der evolutionären Anpassung, der Individuation und in der Reizbarkeit der Sinne. Die Evolution ist ein geordneter Prozess, in dem sich das Leben herausarbeitet aus dem kompakten Gebilde der Erde und sich auf seinen Boden stellt. Ein Weg aus dem Wasser heraus vom waagerecht schwimmenden Fisch zum aufrecht stehenden Menschen. Dieser sukzessiven, Jahrmillionen dauernden Aufrichtung des Rumpfes um neunzig Grad folgt eine Kette von Umarbeitungen am Skelett, an der Hand, im Gehirn, bis zum Gewinn des zweifüßigen Unterwegsseins des Menschen.

Die materielle Grundlage des Unterwegsseins ist der Weg. Weg kommt von bewegen. Das lateinisch Wort Via meint Weg, Straße, Mittel, Methode und Reise, also auch die Aktivität auf einem Weg, während das griechische Wort méthodos Nachweg bedeutet: meta (nach), hodos (Weg). Unterwegssein auf einem Weg ist ein methodisches Sein. Das Aufsetzen eines Fußes auf ein unberührtes Gelände ist der Anfang eines Weges, der eine Linie aus Fußtritten in die Fläche zeichnet. In dem Sinn hat Jakob von Uexküll gesagt: „Wo ein Fuß ist, ist auch ein Weg.“ Und erst wo ein Weg ist, kann von Nachgehen gesprochen werden. Zuerst also muss der Weg im Gelände entstehen, oder wie bei den Tieren instinktiv vorgezeichnet sein. Wer auf Wegen geht, wiederholt Erfahrungen und wird kundig, wird erfahren und bewandert. Die Erde hat Strukturen geschaffen, die den Lebewesen Routen, Wege und Verläufe nahelegen oder vorzeichnen wie Täler, Flüsse, Öffnungen im Gelände. Wo Wege im Gelände immer wieder verschwinden, müssen sie im Gedächtnis bewahrt werden, wie die Traumpfade der australischen Aborigines. Der Mensch muss aber auch von Wegen abweichen und neue Wege schaffen, wenn er sich übermächtigen Gegnern, großen Tieren und Naturkatastrophen entziehen will, wenn ihn Abenteuer verführen oder spirituelle Ziele ihn leiten. Das Unterwegssein des Menschen auf den eigenen Füßen ist eingebettet in das Laufen und Rotieren, das Rinnen und Pulsieren des Alls und zeigt sich als Ausdrucksform von Spiritualität und Verwandlung.

 

Unterwegssein von Individuen und Kulturen

Jedes Dasein tritt einzeln in die Welt. Ein Vorgang des Entstehens und Werdens, das sein Wesen in der Dehnung und der Verräumlichung hat. Der Eintritt in die Welt ist eine Umwandlung von Bewegungsformen, die sich im Wachstum fortsetzen, in der Nahrungsbeschaffung gipfeln und im Absterben enden. Lebewesen sind in der aktiven Bewegung des Leibes unterwegs. Aale und Lachse legen viele tausend Kilometer zurück, um von den Laichplätzen weg, später wieder zu ihnen hin zu gelangen, Küstenschwalben, die in der Arktis brüten, überwintern in der Antarktis, Pfuhlschnepfen verdauen auf ihren über zehntausend Kilometern weiten Flügen ohne Pause von Alaska nach Neuseeland Teile ihrer Eingeweide, Albatrosse können auf ihren Beutezügen in drei Monaten die Strecke des Erdumfangs zurücklegen und Monarchfalter fliegen von Mexiko Tausende von Kilometern in den Norden der USA und nach Kanada. Auch der Mensch bewältigt erstaunliche Strecken. Johann Gottfried Seume ist innerhalb eine Jahres von Dresden nach Sizilien gewandert und hat auf dem Rückweg einen Umweg über Paris gemacht; und vom englischen Dichter William Wordsworth heißt es, er habe auf seinen Wanderungen die Strecke von der Erde bis zum Mond zurückgelegt.

Als Gattung hat der Mensch seinen Planeten zweimal besiedelt. Einmal in Richtung Osten, einmal nach Westen. Zu Fuß brachen Sammler und Jäger auf und besiedelten ihn in Richtung Osten. Sie dehnten ihren Lebensbereich Afrika bis in den Mittelmeerraum hinein aus und gelangten über Mesopotamien, Indien und Südostasien nach Australien, und über Mesopotamien, die Mongolei und die Beringstraße nach Kanada. Von dort aus besiedelten sie den amerikanischen Doppelkontinent in Richtung Osten, wenn auch die südliche Richtung hinzukam. Sie folgten der Drehrichtung der Erde, der Bewegung des Grundes, auf dem sie gingen, dem Scheinverlauf von Sonne und Himmel aber entgegen.

Jahrtausende später haben auf dem umgekehrten Weg Sesshafte die Erde noch einmal besiedelt. Gegen die Drehrichtung der Erde, in Richtung Westen, begleiteten sie die Sonne bis ins Reich der Toten. Sie mussten sich nicht in jedem Fall selbst bewegen, sondern schickten die Prinzipien der Sesshaftigkeit auf den Weg, die die Erde mit Anbaumethoden, städtischen Lebensformen und mit Technologien unterschiedlicher Art versorgten. Wo die Menschen selbst einen Weg zurücklegen mussten, taten sie es nicht mehr zu Fuß, sondern auf fahrbaren Untersätzen. Der Weg führte von der Hochkultur Mesopotamien über das Großreich Ägypten und Judäa nach Griechenland und Nordafrika und von dort über die Weltmacht des Römischen Reiches nach Europa, das sich zu einer hohen Blüte der Kultur und der Macht entfaltete. In Europa verharrte die Bewegung etwa für tausend Jahre, sammelte Kräfte an den westlichen Rändern in Großbritannien und Holland, in Frankreich, Portugal und Spanien, und schickte um Fünfzehnhundert die Karawane der Sesshaften per Schiff über den Atlantik. Ein Jahrhundert später begann in Richtung Westen die Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents, der als Vereinigte Staaten von Amerika dreihundert Jahre später Europa als erste Weltmacht ablöste. Nach dem zweiten Weltkrieg stieg westlich der USA, jenseits des Pazifik, Japan als neue Weltmacht auf. Als kommende Großmacht gilt China, mit dem sich das Phänomen Hochkultur und Weltmacht in etwa sechstausend Jahren nahezu einmal um die Erde gedreht hätte.

In der Besiedlung seines Planeten begleiten Tiere den Menschen oder folgen ihm. Die in Europa bekannte Ratte ist eine Wanderratte, die zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts von Indien aus nach Europa wanderte und am Ende des Jahrhunderts Europäern als blinder Passagier per Schiff nach Nordamerika folgte. Auch sie hat Begleiter, etwa den Floh Xenopsylla cheopis, den wiederum das Bakterium Yersis pestis begleitet. Das Bakterium gelangte 1347 vom Floh in die Ratte und von dort in den Menschen und ließ sich von Afrika nach Sizilien einschleppen, von wo aus es sich über ganz Europa bis nach Island ausbreitete und die Pest verursachte. Alle Epidemien rühren von Tieren her. Die Fähigkeit, vom Tier auf den Menschen übertragen zu werden, haben die Bakterien mit der Sesshaftwerdung des Mensch erworben. Übertragen werden sie, wo Menschen eng mit Tieren zusammenleben, was deren Domestikation voraussetzt. Bakterium und Krankheit können nur überleben, wo viele Menschen wie in Städten und auf Märkten aufeinandertreffen. Antike Reise- und Handelsrouten sind die ersten Sammelstellen für die Reise von Epidemien.

 

Das Reisen in Mythen

Die Inbesitznahme der Erde und die Ausbreitung der Kultur spiegelt sich in vielen Mythen wider. Im Mythos ist das Unterwegssein eine spirituelle Form des Laufens: ein Wandeln auf dem Fuß, das ein Ausdruck der Wandlung ist. Die mythischen Pfade des Wandelns sind Urwege der Ahnen. Vorbilder, an denen sich der Mensch der ursprünglichen Wege des Stammes erinnert. Indem er von den Urwegen hört und sie im Geist nachgeht, wiederholt er die Erfahrung der Ahnen, die ihn verwandeln und zur Einsicht führen. Auf den mythischen Wegen wird der Mensch Prüfungen unterworfen. Es sind Prüfungen der Lebenserfahrung, bei der es darauf ankommt, einen möglichst weiten Erfahrungshorizont zu durchschreiten und sich auf einen angemessen weiten und gewagten Weg zu begeben.

Für die Aborigines umfasst dieser Weg die gesamte Existenz. Ihnen ist der Kontinent mit Wegen der Ahnen, den Traumpfaden, überzogen. Auf den Pfaden, die ein Netzwerk bilden, das ihnen Wege in die Vergangenheit und in die Zukunft ebnet, überschneiden sich Gegenwart und Mythos. Auf ihnen liegen sakrale Stätten, die die Mitte ihres Lebens bilden. Das Ahnenerbe der weitläufigen Pfade wird gemeinsam durch alle Stämme bewahrt. Deshalb treffen sie immer wieder mit anderen zusammen und rufen sich in gemeinsamen Zeremonien die heiligen Ereignisse der Ahnen ins Gedächtnis.

Verwandlung im Mythos und in der Gemeinschaft setzt Erfahrungen jenseits der Gemeinschaft voraus. Deshalb kontrollieren Instanzen die Anpassung des einzelnen und lassen ihn von Zeit zu Zeit den Weg hinein in die Gemeinschaft noch einmal gehen. Dazu wird er vorübergehend von der Gemeinschaft abgesondert. In der Kindheit und in der Jugend, bei der Geburt und zur Hochzeit wird er dem Schmerz der Trennung und peinigender Rituale wie Hautritzungen und Beschneidungen unterworfen. Der temporäre Ausschlus und die peinigenden Eingriffe sollen den einzelnen in der Verwandlung auf seine neue Daseinsstufe anheben und ihn fester an die Gemeinschaft binden.

Odysseus wird in einer über zehn Jahre dauernden Irrfahrt einer umfassenden Prüfung unterzogen. Die Odyssee legt dar, wie sich seine Persönlichkeit entfaltet, wie er an Erfahrungen reich wird, wie er isoliert von der Gemeinschaft zu einem Einzelgänger wird und doch seine Gemeinschaftsfähigkeit bewahrt. Danach prüft der Mythos, ob ihm der Weg zurück in die Gemeinschaft gebührt, ihr seine Erfahrungen nützlich werden können. Aus den Irrwegen soll er den einen, den wahren Weg herausfinden. In der Odyssee ist es zugleich der selbstbestimmte Weg der Griechen in die sich entwickelnde Demokratie. Das Wandeln auf den Irrwegen und den Wegen der Erkenntnis verwandeln Odysseus in ein den Göttern verwandtes Wesen, den Heros.

Auch das Schicksal ist ein Reisen, veranlasst durch Götter. Der biblische Gott schickt die Menschen mehrfach auf die Reise, damit sie sich wandeln. Er vertreibt sie aus dem Paradies und fügt sie in die Geschichte, ihr Schicksal; er verurteilt den Ackerbauern Kain für den Mord an dem Nomaden Abel zu lebenslanger Wanderschaft; nach dem Turmbau zu Babel zwingt er die Menschen durch Sprachverwirrung, sich über die Erde zu zerstreuen; er lässt die Hebräer – von Ägypten aufbrechend – vierzig Jahre lang durch die Wüste irren, bevor sie das ihnen verheißene Land finden und sich niederlassen; er schickt Jesus, der unter den Menschen wandelt, um sie zu verwandeln. Die Wandlungen sind innere Erneuerungen und Rückreisen zu Gott.

Pilger suchen auf langen Wallfahrten die Insignien der eigenen Religion. Sie ziehen nach Mekka, Santiago de Compostela, Rom oder Jerusalem. Muslime sollen sich einmal im Leben auf die Hadsch nach Mekka machen und ihr Heiligtum, die Kaaba, umkreisen und in ihrem Innern den heiligen Stein geküsst haben. Christen zieht es zu Wallfahrtskirchen, zu Gräbern Heiliger und zu den Wegen, auf denen Christus wandelte. Vorbereitung, Durchführung und Rückkehr verwandeln den Pilger. Er ist für lange Zeit auf ein geistiges Ziel hin orientiert, das in der geographischen und der eigenen Fremde liegt und seit dem sechzehnten Jahrhundert durch Reiseliteratur gelenkt wird.

In den mittelalterlichen Erzählungen um den sagenhaften König Artus sind Ritter unterwegs, um artuswürdig zu werden. Im ersten Zyklus der zweigeteilten Reise suchen sie in Abenteuern persönlichen Ruhm, im zweiten müssen sie Ruhm für die Gesellschaft erwerben. Nach der ersten Fahrt gelangen sie für kurze Zeit zum Hof des sagenhaften Königs, erhalten aber erst nach dem zweiten Zyklus – also nach vollendeter Wandlung – Artuswürde. Diese Würde verlangt ein Opfer, das darin besteht, in einer Monate und Jahre dauernden Reise für ein moralisches Ziel das Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn auch am Tisch nur adlige Ritter sitzen, die ausnahmslos Könige sind, die Artusrunde ist das Bild für die Form einer demokratischen Gesellschaft. Die runde Tafel ist eine Institution der Verwandelten, an der alle Sitzenden gleichen Ranges sind. Als Inbegriff der Moralität wandelt Artus, der immer den Endpunkt der Ritterreise bildet, den Menschen in Güte und Unerschrockenheit, in Gleichheit und Erhabenheit.

 

Unterwegssein und Hemmung

Das Unterwegssein ist begleitet von Staus des Reisens. Lebewesen verfügen über physische Strategien der Arretierung von Bewegung: Winterstarre, Totstellreflex der Käfer, Tragstarre junger Löwen oder beim Menschen die Akinese in der Parkinsonerkrankung. Der Mensch hat auch kulturelle Strategien des Reisestaus entwickelt. Offenkundig liegt für den Menschen ein Reiz darin, der Evolution und der eigenen Ursprünglichkeit ein Prinzip entgegenzustellen, das beide übersteigt: etwas zu schaffen, das die Natur nicht hervorgebracht hat. Es ist der sesshafte Mensch, der der Natur ein neues Beispiel gibt: das Bleiben und Verharren. Er bändigt das Unterwegssein, lenkt es nach Innen und macht sich von äußeren Eindrücken ein Stück unabhängig. Mit der Hemmung äußerer Beweglichkeit stellt sich eine Konzentration nach innen ein, so dass der Mensch seinen Leib über die Haltung und die Unbewegtheit zum Werkzeug für ein inneres Reisen machen kann, indem die leibliche Hemmung zu einer Erhöhung der Konzentration auf das Innen und der Selbstkontrolle führen.

Sesshaftwerdung ist die Bindung des Menschen an das Haus. Eine Gemeinschaft unterwirft ihre Mitglieder einer Formung, in der die langen Reisewege in kurze Wege der Häuslichkeit zerbrochen werden. Zugleich erfindet sie ein Bild von der vollendeten Sesshaftigkeit: den auf dem Stuhl sitzenden Menschen. Sie wählt einen aus ihrer Mitte aus, setzt ihn gewaltsam und begrenzt seine Bewegungsfreiheit, macht ihn aber auch zu ihrem Herrscher und König. Könige sind Anti-Reisende. Sie sollen nicht im Raum ausschreiten, sondern ihr Innen betreten. Das innere Reisen erzeugt spirituelle Kräfte, die den König befähigen, mit kosmischen Kräften in Kontakt zu treten. Aber das Stuhlsitzen hat eine Schattenseite: es schneidet tief in die Physis und die Psyche des Sitzenden, indem es alle Funktionen des Leibes herabsetzt und sein Degenerieren einleitet. Die Skelettmuskulatur wird angespannt und über die Minderung der Beweglichkeit des Zwerchfells die Atemtätigkeit vermindert. Da eine reduzierte Atmung die Muskulatur anspannt und angespannte Muskeln die Atemtätigkeit einschränken, geraten Atem und Muskulatur in einen Kreislauf von Reduktionen und Verfestigungen, die in einer geringen Beweglichkeit des Körpers und auf einem niedrigen Umsatz an Energie zur Ruhe kommen, dem Zustand der Sedierung, die sich wie ein Schatten auf den gesamten Organismus legt, in der sich starke Kulturkräfte des Ordnens, Kontrollierens, Zurückhaltens und Planens ausbilden. Das lateinische Wort sedere – stillsitzen und besänftigen – ist das Grundwort für das Nichtreisen, für alles Beruhigte und Angehaltene: Siedlung, Sessel, Sediment, Sedativum, Sitzen. So ist der König zwar mächtig, aber um den Preis seiner Beweglichkeit, die eine verstümmelte Sinnestätigkeit nach sich zieht. Sein Opfer liegt in der Bewegungshemmung. Die Gemeinschaft glaubt, einen festhalten zu müssen, damit sich die anderen bewegen können. Im gewaltsamen Setzen des Königs führen die Sesshaften das leibliche Unterwegssein einer einzigen Person radikal an ein Ende.

Eine freiwillige Form des Opfers und der Reiseverweigerung war in den ersten Jahrhunderten nach Christus das unbewegte Stehen auf einer Säule. In dieser besonderen Form der Selbstopferung gaben die Asketen eine Demonstration ihres Beharrungsvermögens. Der Legende nach verbrachte Simeon Stylites (390-459) die letzten vierzig Jahre seines Lebens stehend auf einer Säule, von der herab er täglich predigte und an Sonntagen über Stunden die Hände zum Himmel hob. Während er, von einer Pilgerschar umgeben, säulengleich auf der Säule stand, bewegten sich aus vier Himmelsrichtungen vier Basiliken auf ihn zu und machten ihn zur festgehaltenen, unbeweglichen Mitte des Oktogons, dem Zentrum der Kirche. Er manifestierte seine Willensform als absolute Reiseunlust.

 

Geistiges Unterwegssein und Fortschritt

Die Bewegung hemmenden Elemente verursachen im Menschen Verlangsamungen bei der Umsetzung der Körperenergie. Die Geschichte des Abendlandes ist eine Geschichte der Erfindung von Bewegungsbegrenzungen, in der es sein Kulturschaffen und seine Produktivität gewaltig gesteigert hat. Fünf solcher Stauformen haben den Charakter der westlichen Kultur tiefgreifend geprägt: Der Domus (das Haus) domestiziert den Menschen, die Civitas (die Stadt) zivilisiert ihn, als Discipulus (der Schüler) wird er diszipliniert, das Sedile (der Stuhl) sediert ihn, während das digitale, kybernetische Netz auf seine geistige und leibliche Verkünstlichung hinarbeitet. Diese fünf Beruhigungsformen sind zu globalen Werkzeugen des Arbeitens, Empfindens und Denkens geworden. Mit ihrer Ausbildung findet jeweils ein Umbruch im Reisen statt, ein Paradigmenwechsel vom Leib auf den Geist: Geistige Reisen sind Denken, Einbilden, Spekulieren oder Erfinden, die sich äußerlich als Erfindungen, philosophische Gedanken, Kunstwerke oder immer gewagtere Formen des Reisens manifestieren.

Europa hat sein Wissen anderen Kulturen entlehnt: die Wissenschaft den Griechen und Arabern, das Christentum dem vorderen Orient, die Baukunst und den Straßenbau den Römern. Es hat dieses kulturelle Erbe bewahrt und das Wissen im eigenen Horizont gedeutet, den eigenen Vermögen angepasst und weiterentwickelt. Dieser Aufgabe haben sich insbesondere die christlichen Mönche gewidmet. Ein wichtiges Werkzeug ihrer Arbeit ist das Bleiben in einem Kloster, die Stabilitas loci, wie sie den Benediktinermönchen vorgeschrieben wurde. Bei ihrer geistigen und pflegenden Tätigkeit haben sie ein Mittel entwickelt, das zu einer wichtigen Grundlage geistiger Bildung Europas wurde: das Sitzen im Chorstuhl, mit dem sie die königliche Herrschergeste des Thronens übernommen und für das Sitzen des europäischen Bürgertums vorbereitet haben. Im Programm Bete und Arbeite verstärken sich das innere Reisen, das Beten, und die äußerliche Bewegung, das Arbeiten, gegenseitig.

Seit der Entstehung großer Reiche und Kulturen kam es immer wieder zu gewaltigen Verschiebungen. In der Ägäischen Völkerwanderung um Zwölfhundert vor Christus, in den Völkerbewegungen seit dem zweiten vorchristlichen und dem vierten nachchristlichen Jahrhundert, einmal ausgelöst durch germanische Stämme, einmal durch die Hunnen. Erst Karl der Große bringt die Verschiebungen der politischen Konstellation zur Ruhe. Er etabliert ein Europa, das viele Jahrhunderte lang nur gelegentlich von großen Bewegungen wie Kreuzzügen, Eroberungen oder Epidemien erschüttert wird. In dieser Zeit der politischen Stabilität entfaltet Europa nach innen eine grenzenlose Aktivität. Handwerk und Handel entstehen, Städte werden gegründet und Wissenschaften etablieren sich. Beide Berufe waren an das Unterwegssein gebunden. Kaufleute sind seit dem elften Jahrhundert unterwegs von Markt zu Markt und bei den Handwerkern gehörte das Unterwegssein unmittelbar zur Ausbildung, die aus der Lehre, den Gesellenjahren und einer Wanderzeit bestand, in der der Geselle auf die Walz ging und für Jahre in der Fremde arbeitete.

Der enorme Stau in Richtung Westen hat die Aktivität und das Reisen der Europäer im Innern gefördert und ihren Aufstieg eingeleitet. Das primäre Merkmal des Bürgers ist das innere Reisen. Ein neues Feld der Aktivität, ein rationales Operieren als Simulation äußerer Vorgänge. Indem das gehobene Bürgertum um Fünfzehnhundert das Stuhlsitzen übernimmt und den Stuhl zur Repräsentation in die Privathäuser und für das Rechnen und Kalkulieren in die Kontore holt, wird das Sitzen zur leiblichen Basis der Bürgerlichkeit. Bürger nutzen den Stuhl nicht, um zu meditieren wie Könige, sondern nutzen die Kräfte der Hemmung des Sitzens für Repräsentationsaufgaben und für den bürgerlichen Beruf. Sie lassen die physische Reduktion im Sitzen auf Atmung und Muskulatur wirken und machen das Sitzen wie beim König zu einer Einrichtung der Verinnerlichung, in der sie lernen, so über Abstraktes, Verborgenes oder nicht Anwesendes zu sprechen, als wäre es gegenwärtig. Das geistige Ziel sind nicht mehr die kosmischen, göttlichen Mächte, sondern die praktischen, irdischen Gegebenheiten. Die kompakte Einheit von Stuhl und Tisch ist zu einem effektiven Arbeitsmittel verdichtet worden und hat Arbeit und Leben den Maximen von Effizienz, Rationalität und Methodik unterworfen, Technik und Wissenschaft auf ein ungewöhnlich hohes Niveau gehoben und Europa zu einer gewaltigen ökonomischen Macht verholfen. Fortschritt ist ein Unterwegssein im Geist und das Bereiten innerer Strukturen, die später im Außen realisiert werden, der als permanenter Ansporn zur Verbesserung und Vervollkommnung der gesellschaftlichen Verhältnisse wirksam wird.

Mit Tisch und Stuhl und den daraus folgenden Fertigkeiten hat Europa Normen geschaffen, die sich bis heute behauptet haben. Die Kulturen, die zur Weltmacht streben, müssen ihre Ideale der Praxis und der Theorie von Wissenschaft und Politik, von Kultur und Technik übernehmen, denn sie bilden heute das Know-how, dem sich niemand entziehen kann. So unterliegen die Europa nachfolgenden Weltmächte wie die USA oder Japan auf dem Weltmarkt den Regeln, die die Europäer seit der Neuzeit entwickelt haben. Zwar verschieben sich die Orte ökonomischer Überlegenheit, die Methoden des Arbeitens sind aber strukturell dieselben geblieben. Mit seinen Idealen von Leben und Arbeit hat Europa die Vielfalt der Lebensentwürfe reduziert und eine einzige Dimension, die restlos von Technologien beherrschte Welt, übriggelassen.

Ein Resultat der abstrakten, logischen Operation ist das Anlegen des rechtwinkligen Straßenrasters des Hippodamos von Milet, mit dem Europa seit der Neuzeit die Erde überdeckt. Das Raster ist eine Beschleunigung des Unterwegsseins. Die Straßen verlaufen geradlinig und erlauben ein reibungsloses Vorankommen. Ging der Mensch einst zu Fuß durch Wüsten, Wälder und Gebirge, durch Eisgelände oder Steppen, benutzt er heute Bahn und Automobil. Indem es zu einem allgemeinen Gefährt des einzelnen geworden ist, hat das Automobil einschneidend in das Unterwegssein des Menschen eingegriffen. Es hat den Fuß motorisiert, zum rollenden Rad gemacht und dem Menschen die selbsttätige Vorwärtsbewegung genommen. Die gerade und konstante Unterlage der befestigten Straße hat den Menschen der wechselnden Belastung beraubt und seine Füße vom Boden abgehoben. Gab es Kulturen, in denen Fuß und Mensch mit demselben Wort bezeichnet wurden, hat der Fuß heute Kraft und Ansehen verloren.

 

Unterwegssein und Globalisierung

Reisen ist Fremdwerden. Im Unterwegssein drängen sich das Ungeläufige, das Einzigartige und das Fremde an den Reisenden heran, denen er nicht ausweichen kann. Jeder neue Weg birgt Gefahren. Zugleich ist Reisen Aneignung des Fremden. Jeder Schritt unterwirft das fremde Gelände der eigenen Verfügbarkeit. Da sich der Mensch bewegt und nur unter Bedingungen anhält, liegt in der Aneignung des Fremden eine Tendenz zur Unterwerfung aller begehbaren Flächen der Erde. Hierin liegt eine Neigung zur Globalisierung und im Globalwerden die Neigung, das Fremde anzueignen und aufzusaugen.

Massentourismus ist ein globales Projekt. Touristische Reiseveranstaltungen erweisen sich als Strategien der Eroberung ökonomisch unterlegener Länder. Das Gefälle von den reichen Nationen in weniger wohlhabende macht die gegenseitige Anerkennung unsymmetrisch. Der von der Unbewegtheit und Eindimensionalität seines Lebens betroffene, moderne Mensch sucht nach Bewegung, Ursprünglichkeit und Folklore, auch wenn sich seine Suche oft auf Badestrände, gutes Wetter oder Sportmöglichkeiten beschränkt. Mit der fremden Kultur muss sich der Tourist nicht befassen, denn er findet Infrastrukturen vor, die es ermöglichen, denselben Gewohnheiten wie zu Hause nachzugehen. Indem aber das Fremde ins Eigene verwandelt wird, wird auch die Ursprünglichkeit zerstört, der scheinbare Anlass für die Reise.

Die Produktivität westlicher Kulturen hat das Unterwegssein unermesslich gesteigert und global in einen einzigen Verkehrsstrom gebündelt. Globalisierung ist das Zusammenwachsen der ganzen Welt zu einer gegenseitigen Abhängigkeit von Wirtschaft, Kultur, Politik und Ökologie. Das labyrinthische Netzwerk aus Straßen, Wasserwegen, Gleisanlagen, Luftkorridoren und Satellitenbahnen, das den raschen Ortswechsel von Waren, Informationen und Personen garantiert, wird durch das Internet gestrafft und vereinheitlicht. Datenhighway ist das alle Wege verknüpfende Medium, das dem Menschen den raschen Zugriff auf jeden Ort und jede Einrichtung der Erde garantieren möchte.

Globalisierung ist Grenzüberschreitung. Sie hebt die lokalen Orte auf und öffnet sich – global – dem Fremden. Ein globales Gastrecht aber gibt es noch nicht. Gäste sind Fremde, auch wenn sich Menschen heute mit großer Selbstverständlichkeit real oder virtuell fern der Heimat aufhalten. In der Antike und im Mittelalter war das nicht Brauch. Fremde hatten keine Rechte. Das Gastrecht hat sich aus dem Umstand entwickelte, dass die Rechtlosigkeit des Gastes Handel und Austausch zwischen den Staatswesen erschwerte. Tacitus hat das Gastrecht der germanischen Stämme gelobt, das bei den Römern nur an einzelne Personen gebunden war. In einer Art heiliger Allianz war der Gastgeber verpflichtet, dem Gast Beistand zu gewähren. Beide tauschten als Garantie und Sicherheit Erkennungszeichen aus. In Rom war das Zeichen die Tessera hospitalis, eine Münze mit dem Abbild des Jupiter Hospitalis, dem Gott der Gastfreundschaft. Die Römer entwickelten auch ein öffentliches Gastrecht, das Gesetz Hospitium publicum, über das sie mit anderen Staaten gesetzlich gegenseitige Gastfreundschaften regeln konnten. Später wird Hospiz der Name für die Herberge Fremder, die in Klöstern, Städten und an Handelsstraßen eingerichtet wurden und bis heute den Namen tragen. Sie beherbergten im Mittelalter und in der Neuzeit Reisende und in bestimmten Zeiten die Massenströme von Pilgern und Flüchtigen. Ein allgemeines, der Globalisierung angemessenes Gastrecht, wäre ein Hospitium publicum globale. Gegenwärtig gibt es große Wanderungen und Auswanderungsbewegungen als soziale und ökonomische Bewegungen. Die Massenzuströme vom Land in die Metropolen und von armen in wohlhabendere Nationen sind ebenso Teil des globalen Fortschreitens wie die Flüchtlingsströme aus Krisen- und Kriegsgebieten.

Das Weggehen, das Verlassen eines Landes, ist schwierig. Intern, weil die Einbindung in die Familie, den Freundeskreis und die Arbeitswelt das Weggehen hemmt, extern, weil Fremde nur unter besonderen Bedingungen Aufenthaltserlaubnis erhalten. Gelingt der Schritt, bleiben die meisten in der Fremde Fremde, die sich auf bestimmte Weise verhalten, besondere Gewohnheiten und Interessen haben und eine fremde Sprache sprechen. Dass die Integration in die neue Umgebung Probleme mit sich bringt, unterstreicht die Wichtigkeit der ursprünglichen Gemeinschaft für den einzelnen: Die Kultur, in der er aufwächst, formt ihn bis hinein in die feinsten Regungen, die in jeder Gewohnheit mitschwingen. Dennoch bietet der Kontakt zwischen Fremden im Tourismus, durch gemeinsame Arbeit oder die Bekanntschaft mit Flüchtlingen die Möglichkeit eines Kulturaustausches und eines gegenseitigen Verstehens. Wer mit der Fremde oder mit Fremden in Berührung kommt, mit ihrer Sprache, ihren nicht vertrauten Verhaltensweisen und kulturellen Eigenarten, überwindet Grenzen. Auch in sich. Die Begegnung, in der man seine Gewohnheiten erlebt, kann das Fremde näherbringen und Vertrauen schaffen, toleranter machen und neue Lebensaussichten eröffnen. Eine gegenseitige Öffnung auf globalem Niveau mag schwierig erscheinen, ist aber eine notwendige Voraussetzung, wenn Globalisierung nicht Eroberung sein soll.

 

Globales Nomadentum und Sitzenbleiben

Moderne Kulturen sind Mobilgesellschaften besonderer Art. Die Mittel ihrer Macht sind Unterwegssein und Tempo, deren Erfüllungsgehilfen Raumfahrt und Hochgeschwindigkeitszüge, Automobile, Luftverkehr und Informationstechnologie. Eine sehr mobile Gruppe von Reisenden sind Geschäftsleute, Film- oder Sportstars, Wissenschaftler. Sie arbeiten an unterschiedlichen Orten, erfüllen beruflich vielfältige Funktionen und sind über Computer und Mobilfunk global vernetzt. Sie sind mobil und gelten als moderne Nomaden, als Globalnomaden, die von sich sagen, dass sie dauerhafte Beziehungen, das herkömmliche Wohnen und bürgerliche Werte aufgegeben haben.

Traditionelle Mobilgesellschaften sind Sammler- und Jägergemeinschaften, Nomadenkulturen oder mittelalterliche Hofgesellschaften, in denen die Könige mit ihrem Hofstaat von Residenz zu Residenz unterwegs waren und das gesamte Mobiliar mitschleppten. Archaische Nomaden sind ständig auf den Füßen und unter Einsatz des Leibes unterwegs mit Herden domestizierter Tiere, die modernen Nomaden dagegen mit Ideen und Konzepten, Informationen und Projekten. Ihre Aufenthaltsorte wechseln sie nicht durch das Laufen auf eigenen Füßen und die Verausgabung leiblicher Energie, sondern ihre Bewegung erfolgt durch mobile Untersätze. Ihre Residenzen im Unterwegssein sind ausschließlich Sessel und Stuhl. Sitzend verschieben sie Kapital und Information oder halten sitzend simultan über mehrere Erdteile Konferenzen ab, fliegen um die Erde und rasen sitzend in Taxis zu den Flughäfen und Bahnhöfen der Welt. Unentwegt sind sie unterwegs zum nächsten Stuhl. Ein moderner Nomade, der über mehrere Wohnungen in verschiedenen Teilen der Erde verfügt und zeitweise drei Lehrstühle innehat, bringt seine Lebensphilosophie in einem Erstaunen zum Ausdruck: Treffe er Menschen mit bürgerlichem Zuhause, könne er kaum glauben, dass es diese Spezies von Mensch noch gibt, da sie ihm ethnologisch betrachtet als obsolet erscheint. Allerdings verdeckt die Charakterisierung der modernen Reisenden als Nomaden den Kern der engen Verbindung zwischen Vorwärtsbewegung, Fußbelastung und Körperhaltung und einer tief verwurzelten Bürgerlichkeit, denn das moderne Nomadentum offenbart sich als eine Extremform der Sesshaftigkeit. Als ein globales Sesshaftsein, das in einer mehrfachen Lehrstuhlinhabe treffend zum Ausdruck kommt. Während andere nach getaner Lesung den Stuhl verlassen, müssen sie sich noch – sitzend – zum zweiten aufmachen, um erst dann den dritten zu besetzen. In ihnen ist das leibliche Unterwegssein – wie beim König – aufgehoben.

Moderne Nomaden sind Avantgardisten. Sie bilden eine Gruppe von Menschen, die noch länger als alle anderen Vielsitzer das Leben sitzend zubringen. Ihr Unterwegssein ist Bewegungsarmut und Unbewegtheit. Füße und Leib sind immobil, als säßen sie auf einer Bühne, an der permanent Kulissen vorbeigeschoben werden, die ihnen immer neue Orte suggerieren, an denen sie mit immer neuen Menschen zusammentreffen. Ihre Füße brauchen sie so wenig wie Könige, dennoch sind sie überall zugleich. Sie sind ihrer Zeit voraus, weil trotz Fitness und Extremsport das Stuhl- und Sesselsitzen weiter zunimmt, so dass der Mensch eines Tages tatsächlich so viel sitzen könnte, wie Globalnomaden es bereits tun. So umweht die Globalnomaden durch die unterstellte Geistesnähe zu den archaischen Nomaden eine Aura des Rätselhaften, Revolutionären, Archaischen, so dass sie sitzend mutig voranstreben können in ihrem asketischen und auf das Nötigste reduzierten Dasein. Sie geben im Sitzenbleiben ihr Opfer und erscheinen wie Heilige der Moderne.

Das Sitzen auf Stühlen ist die Vollendung der Sesshaftwerdung. Deshalb formuliert ein moderner Nomade das Erhabene seiner Existenz als paradoxes und bescheidenes Glück: Einerseits wirke es auf ihn abstoßend, wenn man in unserer Zeit so gemütlich, sesshaft und bequem lebe, andererseits erlebe er die Unerreichbarkeit, die ihm das Abschalten seines mobilen Funktelefons bringe, als Geschenk. Dann sitze er einfach nur da. Das seien die Höhepunkte seiner Existenz. Das Herausgehobene seines Daseins erweist sich als eine asketische, christliche Botschaft. Auch die Johannesoffenbarung oder Apokalypse, der letzte Abschnitt der Bibel, definiert das einfache Dasitzen als Höhepunkt. Sie offenbart ein eindrucksvolles Bild von der restlosen Aufhebung der Bewegung und der Beweglichkeit in der Welt und führt alle Formen menschlichen Unterwegssein an ein Ende. Auch die neue zu schaffende Welt wird starr und leblos vorgestellt, ohne Reisemöglichkeiten. Sie bietet nur Raum für den gläubigen Menschen, dem prophezeit wird, er werde zur Rechten Gottes sitzen, auf dem Thron Christi, wenn er, wie dieser, den Leib überwindet und das Kreuz auf sich nimmt. Das Vorbild für die Gläubigen sind die vierundzwanzig Ältesten, die um den Thron Gottes sitzen. In sich ruhend, bis in alle Ewigkeit. Der Lohn für die Unterwerfung unter das Kreuz und die Überwindung des Leibes ist das ewige Sitzen, das ein Nachsitzen und Sitzenbleiben ist.

Die Grundidee eines Mythos ist für Walter Benjamin die Welt als Strafe. „Die ewige Wiederkehr“, sagt er, „ist die ins Kosmische projizierte Strafe des Nachsitzens“, in dem die Menschen ihren Text in unzähligen Wiederholungen nachzuschreiben haben. So ist das einfache Dasitzen moderner Nomaden ein apokalyptisches Sitzenbleiben – eine Strafe. Denn so sehr der einzelne das Sitzen durch Gewohnheit als Bequemlichkeit oder Geborgenheit erleben mag, in Wahrheit ist es das Kreuz, das er auf sich nimmt, was der Bibel als Bedingung für das Sitzen bis in alle Ewigkeit auf dem Thron Christi gilt. Sitzenbleiben ist Strafe, Straffung und Annahme des Kreuzes. Als Kultivierung ist es zwiespältig, denn die Bewegungshemmung ist zunächst Mittel der Erkenntnis und eine Bereicherung, in ihrer rigorosen Form aber macht sie das Denken und Bewegen, das Verhalten und Fühlen abstrakt, spröde, brüchig.

  

Unterwegs in der Galaxis und im Netz

Mit der Ausbildung einer geräumigen Innenwelt und einer gewaltigen technischen Außenwelt lernt der Mensch, sich von der Erde zu emanzipieren und in vertikaler Richtung zu reisen. Nachdem er den Erdraum erschlossen und weit in den planetarischen Raum vorgedrungen ist, entwirft er Pläne zur Eroberung der Galaxis. Aus Wissbegierde, militärstrategischen Erwägungen und aus dem Erhaltungstrieb der Gattung, denn es heißt, die Existenz des Menschen hänge an einem Planeten, dessen Bewohnbarkeit zeitlich begrenzt ist, denn in einigen hundert Millionen Jahren sei auf der Erde Leben nicht mehr möglich. Die Sonne dehne sich so weit, dass sie die Umlaufbahn ihres Planeten einschließe. Wenn sich die Menschheit vorher von der Erde lösen, in die Galaxis vordringen und Lebensbedingungen finden und schaffen könnte, wäre, so hofft man, das ewige Leben der Menschheit gesichert. Der Aufbruch in die Galaxis soll mit fliegenden Städten erfolgen, einer galaktischen Arche Noah, die, wie einst, der Überlebenssicherung der Menschheit dient. Bis dahin wird das kosmisches Unterwegssein errechnet, ertüftelt und simuliert.

Das Surfen im Netz ist ein simuliertes und virtuelles Unterwegssein. Unterwegs auf dem Datenhighway. Die Reise beginnt und endet bei den Anwendern, die die aus dem labyrinthischen Netz ankommenden Informationen und Botschaften multimedial auffangen und hör-, sicht- und fühlbar machen. Sie surfen fußlos, bewegen sich digital und materielos durch labyrinthische Pfade der Information, legen gewaltige Wege zurück und erwerben virtuelle und reale Güter aller Art, ohne sich bewegen zu müssen. Ihr Unterwegssein ist die virtuelle Passage, in der die Fußsohlen unberührt bleiben, die wechselnde Belastung der Muskulatur und der Bandscheiben nicht zustande kommt, die Enervierung der inneren Organe reduziert wird und der Atem sich im Unterwegssein nicht weitet. Das Netz ist ortlos, utopisch, wie die Wege in die Galaxis, so dass Galaxis und Netz keine Relation mehr zu den Maßen des Menschen und zu seiner Sinnesarbeit haben. Beide Wege und die auf ihnen erreichten Geschwindigkeiten sind virtuell, unvorstellbar und deshalb mythisch.

Das Erfassen aller Lebensbereiche durch Transportmittel hat die moderne Mobilgesellschaft hervorgebracht. Was aber bedeutet mobil, wenn der mobile Mensch durchschnittlich kaum einen Kilometer pro Tag zurücklegt? Die Distanz in seiner mobilen Immobilität zum Boden, das wenige Laufen und der fehlende Wechsel von Spannung und Ruhe führen zu Fehlstellungen der Füße, zur Verkümmerung der Fuß- und Beinmuskeln und zu Veränderungen im gesamten Skelettaufbau. Der Mensch versteht die Signale des eigenen Leibes nicht mehr und verödet seine sinnliche Orientierungsfähigkeit. Durch die Einschränkung der Sinne kommt der Mensch in ein Dilemma, denn die verödeten Sinne sind es, die Sinnfragen aufwerfen. Daran, dass der Mangel an Bewegung alle Funktionen des Leibes herabsetzt und eine Degeneration des Funktionszusammenhangs einleitet, zeigt sich, dass das Unterwegssein auf den eigenen Füßen immer noch eine von der Evolution bevorzugte Art der Fortbewegung ist, in der der Mensch Vertrauen und Orientierung bewahrt. Die in der Mobilgesellschaft erzwungene Bewegungshemmung treibt Menschen in Fitnesscenter, in den Abenteuerurlaub und zum Extremsport. Aber auch zum Meditieren, Laufen und Wandern. Die Kompensationshandlungen für die Bewegungslosigkeit sind verständlich, aber ambivalent, da sich die Bewegungen auf einem degenerierten Organismus aufbauen. Dass der Mensch gegen das Übermaß an Technik eine Sehnsucht nach der ursprünglichen Daseinsform hat, dem Leben auf dem Fuß, zeigt sich an den gegenwärtigen Ereignissen und Idolen, die Basketballstars sind oder Laufasse und Fußballhelden. Als ein um die Erde verbreitetes, globales Ereignis ist Fußball das ideale Laufspiel, das diese Sehnsucht veranschaulicht.

Mit den Phantasien vom Unterwegssein in der Galaxis und im virtuellen Netz befindet sich der Mensch unter gewandelten Vorzeichen ideell wieder in Afrika, von wo aus er sich aufmachte, sein potentielles Territorium, die Erde zu erkunden. Lebten damals wenige Menschen inmitten der Natur und gingen zu Fuß über die Erde, folgten den Tieren oder sammelten Früchte, ist die Welt heute durchdrungen von unvorstellbaren Bewegungen in einem künstlich eingerichteten Lebensraum: Ströme von Touristen, Massen von Berufstätigen, das pulsierende Leben in Stadtagglomerationen, die Zuschauerströme zu den Kultur- und Sportereignissen sollen Schiffe, Züge, Automobile und Flugzeuge bewältigen. Wo der Mensch nicht unmittelbar sein kann, ist er dabei dank Handy, Fernseher und Internet. Daneben verläuft ein immenser und stetig wachsender Güterverkehr. Mittlerweile stehen zahllose Satelliten und Raumlabors in unterschiedlicher Höhe über dem Äquator und organisieren über Datenautobahnen diese enormen Bewegungsströme auf der Erde, warnen vor Waldbränden oder Hurrikans, erstellen Karten der ökologischen Beschädigung der Erde, lenken Kriege, leiten unterschiedliche Formen der Logistik oder versorgen die Wissenschaften mit Daten. Jenseits der Erdumkreisungen beleben Raumfahrzeuge, Labors und Raumroboter den planetarischen, sogar galaktischen Raum. Dieses immense Unterwegssein ist eine gewaltige globale Gesamtchoreographie des Unterwegsseins auf der Erde.

Obwohl der Mensch gegenwärtig sein Leben unter den Bedingungen von Geschwindigkeitsrausch und Spitzentechnologie, von scharfsinniger Biotechnik und sich überschlagenden Zukunftsperspektiven zubringt, erhält sich eine Sehnsucht nach dem einfachen und archaischen Dasein. Ausgerüstet mit denselben biologischen Fertigkeiten und Mängeln wie vor Tausenden von Jahren hat er sich gigantische Werkzeuge geschaffen, die seine traditionelle Moral und seine evolutive Biologie bedrohen, weil sie hinter dem Wachsen und dem Wandel der Werkzeuge zurückblieben. Seine gewonnene methodische Klugheit hat er gegen seine Spiritualität, die ihn auf den Boden zurückholen könnte, eingetauscht, wozu er sich seiner Füße erinnern müsste.

Was die unersättlichen Wünsche und phantastischen Pläne des modernen Menschen relativiert und Hoffnung gibt, ist, dass er im Alltag nicht in erster Linie nach der ihm zur Verfügung stehenden Technik lebt, sondern entlang der Sehnsucht, die an seine biologische Grundform gebunden ist: Er schläft, arbeitet, spielt, nimmt auf, scheidet aus, pflanzt sich fort, und mit jedem neuen Menschen kommen ein Paar Füße auf die Welt, mit der Neigung, sich aufzustellen, den Sturz abzufangen, den Erdboden zu berühren und sich auf die Reise zu machen.



 

© Hajo Eickhoff 2002

 



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