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aus: Wolfgang Jean Stock (Hrsg.) Was bleibt? München 2008


 

Spuren des Verschwindens

Die Ästhetik des Bleibens


 

Lebensspuren

 

Das Werk Nachlaß von Ursula Neugebauer ist eine neue Variation ihres Themas der Hinterlassenschaften und des Verschwindens. Die Arbeit ist auch ein Ausdruck ihres Forschungsstandes zu einem Zeitpunkt, an dem sie das Verschwinden als Spur eines Bleibenden erkennt.

 

Nachlaß, das sind zwölf Farbfotografien von Wohnräumen mit dem letzten Besitz von zwölf gerade Verstorbenen ohne Erben. Eine außergewöhnliche Arbeit und doch das Weitertreiben vorangegangener Arbeiten, in denen das Entschwinden des Seins transformiert und als Spur eines Wandels bewahrt ist.

 

Lebewesen hinterlassen Spuren. Über den Tod hinaus. Was ist, bleibt. Spuren sind Hinterlassenschaften, Überbleibsel, Nachlässe. Bei Tieren und Pflanzen hinterlassen Tierleib und Pflanzenkörper Spuren – Erdöl als das Zurükge-bliebene von Kleinstlebewesen oder Kohle als Rückstand untergegangener Wälder. Beim Menschen sind das Nachkommen, Architektur, Kunstwerke, Gedanken und Theorien, die mit und in anderen Menschen weiterwirken.

 

Vor dem Nachlass gibt es das Nachlassen des Menschen. Lassen bedeutet müde und träge, und nachlassen, dass der Mensch keine Kraft und keinen Willen mehr hat, sich zu behaupten. Er wird müde und schwach, legt sein Haupt und macht sich zum Sterben bereit. Der materielle Besitz beginnt, unbedeutend zu werden und im Sterben zeigt sich die Wahrheit materieller Kulturgüter – sie gehören nicht zu den Notwendigkeiten des Menschen. Nachlässe sind erste Zeugnisse seiner Abwesenheit und Spuren seiner Anwesenheit.


Kunstspuren


Kunstwerke haben unendlich viele, wesentlich aber fünf Bestimmungen. Sie bestehen als Idee, als Schaffensprozess, als fertiges Produkt, als Wahrnehm-bares und sind eingebunden in unterschiedliche Prozesse – in Prozesse der Kultur- und Kunstentwicklung und in die individuelle Geschichte schöpfe-rischer Menschen. Deshalb gehören zur Deutung eines Werkes die Spuren vorhergehender Werke.

 

Ursula Neugebauer beschäftigt sich mit Naturprodukten. Mit ihrem Wandel und ihrem Vergehen. Was bleibt als Möglichkeit der Kunst, wenn Pflanzen verblühen?

 

In Blütenteppich von 1997 setzt sie geschnittene Gerbera in kleine Behälter. Sie wachsen, zeigen ihre prächtigen Farben, verwelken, werden grau und verlieren ihre Kraft. Danach lässt die Künstlerin die Blumen als einmalige Exemplare überdauern – als zeitlich begrenztes Kunstwerk und als Dokument des Werkes.In Von Herzen mit Schmerzen aus dem Jahr 2000 kürzt sie die Entwicklung der Pflanze ab. Sie pflanzt auf einem 200 qadratmetergroßen Feld Margeriten und zupft die Blütenblätter aus, die sie an einem anderen Ort zu einem kreisförmigen Blütenblätterhügel aufhäuft, während ein Video das Zupfen auf dem Feld dokumentiert. Die Kunst beschleunigt den Vorgang des Vergehens und bewahrt Blumen und Blütenblätter als Kunst. Die Künstlerin greift in den Prozess der Natur ein und schafft, was diese nicht vermag: die Margariten in ästhetischer Form zu erhalten.

 

Ursula Neugebauer beschäftigt sich mit Kulturprodukten. Etwa mit Textilien, die wie von jemandem zurückgelassen erscheinen. Was bleibt, von Kleidern, wenn Besitzer sie gerade nicht tragen?

 

In Aus der Haut gefahren von 1999 liegen Kleidungsstücke der Künstlerin auf dem Boden, verbunden mit selbstbeweglichen Kugeln, die die Kleider bewe-gen. Sie ist aus ihrer zweiten Haut gefahren und thematisiert Kleidung als Kulturhülle. Die Kleidungsstücke sind Stellvertreter und Zeichen für die abwesende Besitzerin, die motorisierten Kugeln sind Zeichen für die Kraft, die die Kleider bewegt, wenn sie getragen werden. Nachlaß von 2002/03 zeigt die von einem Verstorbenen zurückgelassenen Dinge. Dinge entstehen dadurch, dass der Mensch mit Arbeit, Spiel und Kunst Naturstoff in Kultur verwandelt. Wenn der Mensch stirbt, der die Dinge beseelte,verlieren die Güter des Priva-ten ihren Sinn und werden Kram, Plunder, Abfall und Müll und verfallen einer kulturellen Namenlosigkeit.

 

Im Gegensatz zu vorhergehenden Arbeiten muss in Nachlaß nichts hinzuge-fügt, nichts arrangiert werden. Das Vorgefundene bietet das nötige Material, um das Leben als Werden, Sein und Entschwinden und als Verdecken und Aufdecken anschaulich zu machen.

 

Ursula Neugebauer kann Kunst, Kultur und Natur praktisch und theoretisch so verdichten, dass sie verschmelzen. Das Resultat sind Humankulturplastiken wie in Aus der Haut gefahren und in Nachlaß, und Biokulturskulpturen wie in Blütenteppich und in Von Herzen, mit Schmerzen, in denen sie die Kunst biologisiert, indem sie mit der Natur arbeitet und ihre Werke den Gesetzen der Biologie folgen lässt.

 

In dem Prozess, in dem das Werk Nachlaß entsteht, setzt sich die Künstlerin einer beklemmenden Situation aus. Im Blick durch das Objektiv eines Fotoapparates auf den letzten Besitz eines unbekannten, nicht anwesenden, gerade Verstorbenen wird sie mit dem Tod konfrontiert und mit dem, was die Kultur an Assoziationen über den Tod bereithält – das Dunkle und Böse, das Ende und Unbestimmte, Hoffnungslosigkeit und Leid, aber auch Vollendung und Erlösung. Hinzukommt, dass sie um der Kunst willen indiskret ist, da die Erlaubnis zum Fotografieren von dem Wohnungsbauunternehmen stammt, bei dem die Verstorbenen zur Miete wohnten, nicht von ihnen selbst.

 

Wohnungen sind persönliche Lebensräume des Menschen, die Schutz bieten. Sie sind eine Welt im Kleinen. Ausgestattet mit Alltagsdingen wie Lampen und Geschirr, Kleidung und Betten, Tische und Stühle, Tapeten, Gemälde und Fern-sehgeräte. Die Dinge des Wohnens haben durch die alltäglichen Abläufe und Rituale einen hohen gesellschaftlichen und individuellen Grad an Ordnung. Ein Nachlass ist der Zusammenbruch dieser Welt. Darin liegt das Beklemmende der Situation. Die Fotografien fixieren den Zusammenbruch einer kompletten Welt unmittelbar vor dem völligen Verschwinden. Eine gewesene Ordnung löst sich auf und wird Sammelsurium, in dem die Dinge zu sinnlosen Zeichen werden. Mit dem Entschwinden auch des Bewusstseins eines Verstorbenen wird die Welt um eine dingliche und eine geistige Welt kleiner.

 

Das Logische der Arbeit Nachlaß liegt darin, dass der Mensch nie so auf seinen eigenen Nachlass blicken kann, wie es Hinterbliebene tun und wie es die Künstlerin macht. Wenn Menschen auch ordnen, was sie zurücklassen werden, und die Dinge noch einmal beseelen – mit dem Tod sind sie wieder leer. Der Blick der Künstlerin ist der Blick auf die Spur einer entschwindenden Seele. Das ist ein radikaler Blick auf die Radikalität der Abwesenheit, der gewagt werden muss. Der Mut, diese Melancholie und Gewalt im aufgeräumten Arrangment zurückgebliebener Dinge zu ertragen, gehört zum Wesen des Werkes. 

 

Ästhetik der Spur

 

In der Konzentration der ästhetischen Mittel kann Nachlaß Betrachter bewegen und zu Erkenntnissen führen.

 

Die Ästhetik in Nachlaß entwickelt sich daraus, dass alle zwölf Räume von einem vergleichbaren Standpunkt aus fotografiert sind – mit dem Rücken zum Fenster, aufgenommen zur selben Tageszeit, ohne zusätzliches Licht und dadurch zur Einheit geordnet.

 

Abwesenheit und Anonymität der Verstorbenen sind im Titel der einzelnen Fotografien ausgedrückt – im Datum, an dem die Personen verstarben. Doch die Darstellungsform holt die Abwesenheit der Verstorbenen wieder ins An-wesen und fixiert im Moment des Entschwindens einer Welt eine Spur vom Menschen. Die Fotografien geben dem Zurückgebliebenen eines Lebens etwas Behutsames, Sakrales, Andächtiges. Es erscheint in einem neuen Licht – im Licht der Kunst.

 

Nachlaß ist die Ästhetik des gerade noch Gewesenen. Die Ästhetik einer Spur. Da, wo vor kurzer Zeit jemand gelegen oder gesessen, am Herd gestanden, ferngesehen oder gewaschen hat, sind nur noch Dinge übrig. Niemand kommt mehr, den Dingen Sinn zu verleihen , sie zu berühren und zu gebrauchen. In dieser melancholischen Hemmung sind die Dinge von der Künstlerin fixiert, ästhetisiert. Sie haben jetzt eine neue Materialität und einen Rahmen erhalten und sind ausdrücklich dem öffentlichen Blick ausgesetzt.

 

In den Übersetzung von Kultur in Kunst, von Kunst in Biologie und von Biologie wieder zurück in Kultur arbeitet Ursula Neugebauer ein ästhetisches Zeichen des Entschwindens heraus und bezieht sich damit auf das Bleiben.

 

In den Formationen von Natur, Kultur und Kunst bewahrt sie ein Bleibendes. Dennoch bleibt nichts, was es war und ist. Das Bleibende ist evolutionär, unterliegt einer Evolution des Formwandels, denn das Bleibende muss sich wandeln, um bleiben zu können. In ihrer Kunst folgt Ursula Neugebauer einer schmerzlichen Logik der Evolution.

 


© Hajo Eickhoff 2008





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