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aus: Tisch & Stuhl. Verweile doch, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Zürich Heft Nr. 4, April 1995


 


Kleine Kulturgeschichte des Sesshaftwerdens

 


Wie der Tisch Arme und Hände befreit, so entlastet der Stuhl Beine und Füße. Auf dem Thron opferte man einst der Gemeinschaft den König, auf dem Tisch den Göttern das Tier. Stühle zwingen unmittelbar zu einer veränderten Haltung des Leibes, Tische formen durch das räumliche Umfeld, das sie organisieren.

 

Tische und Stühle begleiten unauffällig den neuzeitlichen Menschen. Vordergründig dienen sie als Mobiliar, formen aber tiefgreifend die Physis, prägen die Sprache und sind metaphorisch und allegorisch ins Denken eingedrungen. In privaten und öffentlichen Räumen sowie in der Arbeitswelt stehen sie bisweilen so dichtgedrängt herum, dass sie unserer Aufmerksamkeit entzogen sind und den Status einer gewissen Natürlichkeit angenommen haben. Früher kannte man im Alltag weder Stühle noch Tische. Selbst heute sitzen weniger als die Hälfte der Menschen auf Stühlen. Aber diejenigen, die auf Stühlen sitzen, benötigen zur Bewältigung ihres Alltags potentiell zwei Dutzend Sitze, weshalb der weit größere Teil der Stühle in unserer Gesellschaft leer steht und der Besetzung harrt.

 

Ursprünglich sind Tisch und Stuhl eins. Sie sind der Opferstein, auf dem eine Gemeinschaft einst einen Menschen zum Zweck der Opferung getötet hat. In der Gabe wird die sympathetische Verbindung zu den kosmischen Mächten gesucht. Der Opferstein ist ein geweihter Bezirk, über dem sich die Weltachse, die axis mundi erhebt. Mit der Verschiebung des Opfers auf das Tier und dem Erfinden einer für den Menschen nicht tödlichen Korrespondenz mit den Mächten des Heiligen tritt der Opferstein in die beiden Formen des Altars (Opfertisch) und des Throns (Opferstuhl) auseinander. Der Tisch wird die Basis für das Tier, der Thron das Gestell, das den Menschen aufnimmt. Der Mensch wird auf den Thron gesetzt, festgehalten und mit Macht ausgestattet, damit er in sich Kräfte ausbildet, um so der Gemeinschaft Kontakt zu den Göttern zu verschaffen. Die Räume, die Throne und Altare einfassen, sind vertraute und fremde Orte, Bezirke des Rätselhaften, von denen sich der Mensch abstoßen kann. Im Verlauf ihrer Geschichte haben sich Thron und Altar unabhängig voneinander entwickelt. Gelegentlich treffen sie zusammen, lösen sich aber immer wieder voneinander ab. Allein das Abendland hat Thron und Altar zu Tisch und Stuhl umgestaltet und deren gemeinsames Auftreten kontinuierlich ausgebildet, bis die Neuzeit sie zu einer Einheit zusammenschließt.

 

Tische und Throne sind aus Gesten hervorgegangen. Der Tisch kann aufgefasst werden als angehobener Erdboden, als Aufrichtung der Erde. Tische entstanden, als die Hände das Opfertier nicht mehr hielten und freigesetzt wurden, oder aus dem Anheben des Opfersteins auf ein er­höhtes Niveau während des Opfergeschehens, und aus dem Vergrö­ßern der Handflächen. Der Mensch erhöht das Tier auf dem Altar, dem hohen Tisch und teilt es im Opferschmaus mit den Göttern. Tische sind Manifestationen besonderer Funktionen der menschlichen Hand. Throne sind aus der Gebärde des Gebärens hervorgegangen. Sie leiten sich von Vorstellungen ab, wie wir sie in den Statuetten steinzeitlicher Göttinnen finden, die in einer hockend gebärenden Position ruhen, die an das Sitzen auf Stühlen erinnert. Der König wird in dieser Position gesetzt. Im begrenzten Bezirk des Throns wird er festgehalten und seine Füße und Beine werden zur Ruhe gebracht, damit die Gemeinschaft auf den Füßen um so beweglicher wird. Dies kommt im Satz zum Ausdruck, dass der König keine Füße habe. Throne sind Ma­nifestationen besonderer Funktionen des menschlichen Fußes.

 

Der Mensch ist Homo oeconomicus und Homo spiritualis zugleich. Die Seele hat Hunger nach Idealen und Spiritualität, an denen sie das Leben in der materiellen Welt ausrichtet. Gestelle wie Tisch und Stuhl sind nicht nur das Resultat geistiger Vorgänge, sie vermögen auch das Bedürfnis nach Spiritualität zu befriedigen, indem sie das Symbol des Opfers enthalten. Wenn Tisch und Stuhl gemeinsam auftreten und kooperativ arbeiten, greifen sie tief in den Leib und die Seele des Menschen ein und gewinnen Anteil an der Gestaltung einer Kultur.

 

Wandervölker kennen weder Tische noch Stühle. Immer auf den Füßen unterwegs, ziehen sie ihre kosmische Bahn. Sie sind Jäger und Sammler oder Hirten. Zu Fuß bewältigen sie weite Strecken. Über die Fußsoh­len erfahren sie die Art und die Form des Bodens unmittelbar. Die Fuß­sohlen und das Gleichgewichtsorgan des Ohres integrieren die Sinne mit den Leibesfunktionen und bilden eine den Umständen angepasste Orien­tierung aus. Es ist die große Beweglichkeit auf dem Fuß, die keine Ordnung stiftenden Gestelle wie Tisch und Stuhl möglich macht. Wenn die Wanderer nach langem Umherziehen ruhen, legen, hocken oder kauern sie sich auf den Bo­den. Der Erdboden dient ihnen ebenso als Tisch wie als Lagerstatt. Ihnen bietet der eigene Körper in der Rast Halt genug. Zum Tisch fehlt dem Boden dessen Charakteristikum: die horizontale, durch ein Gestell vom Erdboden abgehobene Ebene, auf der man essen, arbeiten, spielen oder etwas ablegen und um die herum man Distanz halten und erzählen kann. Die Jäger verzehren ihre Beute rasch oder heben einen Herd aus dem Boden. Fellstücke, Gräser, Baumäste oder Steine dienen wie Tischtücher oder das Tablett als Unterlage.

 

Sesshaftwerdung ist die allmähliche Entstehung des Hauses und eine Zäsur im Haushalt des Menschen, der zunehmend vom Haus abhängig wird. Im Prozess der Domestizie­rung wird der Mensch ansässig und beginnt im Haus und seiner näheren Umgebung zu wohnen. Das kurzzeitige Bewohnen und das immer erneute Verlassen von Weideland und Jagdgründen wird zu einem Aneignen des Bodens und zur Ausbildung der Zucht von Pflanzen und Tieren. Das Territorium wird nicht mehr durchwandert, sondern be­setzt und begrenzt.

 

Die Erfin­dung des Stuhls ist an den Beginn der Selbstre­flexion des Menschen und seine Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Daseins geknüpft. Das Sitzen auf Stühlen ist eine Haltung der Disziplinierung und Askese und Teil der Strategie des Menschen, sich innerlich zu beruhigen. Es sedativiert den Menschen und hebt ihn auf ein hohes kulturelles Niveau. Im Stuhl hat der Mensch den Kosmos auf seine kleinste besetzbare Größe verdichtet.

 

Das Sitzen auf Stühlen entwickelt sich auf einem langen Weg aus dem Thronen der Könige. Bevor es den Thron gab, musste es Imaginationen und Bilder sitzender Gestalten wie die der gebärenden steinzeitlichen Göttinnen geben. Die Komposition, in der die weibliche Gottheit von zwei Löwen flankiert wird, enthält alle Elemente späterer Throne: Die Schweife der Löwen werden zur Thronrücklehne, ihre Köpfe zu Armlehnen, die Löwenbeine zu Thronbeinen und der Schoß der Göttin wird zum Sitzbrett. Eines solchen Gestells bedarf der König, damit er die Haltung der gebärenden Gottheit einnehmen kann. Mit seiner Verfertigung ist der Stuhl, zunächst als Thron, erfunden. Der thronende König wird zum Gegenbild des Weiblich-Kosmischen. Das Bild besagt, dass der Ort des kosmischen Hervorbringens vom weiblichen Schoß zum Kopf des Königs angehoben wurde und dass Geist und Sprache über allem Stofflichen und Leiblichen stehen.

 

Der König und Priester ist der erste, der gesetzt wird. Man setzt ihn gewaltsam und zwingt ihn, seine Daseinsform vom Fuß auf das Gesäß zu verlagern. Der Brauch, künftige Herrscher am Vorabend der Inthronisierung zu martern, zeichnet sie als Geopferte. Danach zwang man sie auf den Thron, ohne ihnen zu erlauben, Kopf, Füße, Hände oder Augen zu bewegen. Das Thronen hat drei unterschiedliche Aspekte: das Opfer, das Festgehaltensein und die spezifische Leibeshaltung. Die Ohnmacht der Herrscher wird am Beispiel assyrischer Könige anschaulich. Die Assyrer hatten für den König Ersatz bereit, der für Vergehen der Untertanen büßte und mit dem Tod bestraft werden konnte. Dem Nachfolger saß sofort wieder ein Ersatzmann im Nacken. Das Festgehaltensein im Thron macht den König zum Ort der Ruhe, der Mitte des Kosmos. Der König hat keine Füße. Sein Revier, der Thronsitz, ist radikal begrenzt. Solange er unbeweglich verharrt, bleibt auch der Kosmos in seiner schöpferischen Unbewegtheit. Der König soll nicht im Raume ausschreiten, sein Fortschreiten liegt im Geistigen. Über afrikanische Könige wird berichtet, dass man sie auf einen Thron setzte, festschnürte, in den Busch schleppte und den Thron mit einem Tritt umkippte. Auf dem gestürzten Thron sitzend wurde das Oberhaupt versorgt und verehrt. Da dem König neben der Bewegungsarmut die Haltung seines Sitzens die Skelettmuskulatur verspannt und seine Atemtätigkeit drastisch herabsetzt, formt sich seine Physis und weitet die Räume seiner spirituellen Aktivität. Durch die Spiritualität soll er sich den Göttern angleichen und die Nähe zu ihnen für die Gemeinschaft nutzen. Der Thron ist das Tor zum Transzendenten. Ausgestattet mit Kräften, die ihn zu einem Heiligtum machen, begründet der Thron ein Gemeinwesen und verkörpert die Anwesenheit von Schöpfung, Tod und Geburt. Im thronenden König hat die Gemeinschaft eine Institution geschaffen, durch die sie den Göttern eine permanente Gabe darbietet und mit ihnen in einer ständigen Korrespondenz steht. Was der König im Thronen gibt, ist die Zurichtung seines Leibes. Einen Tisch gab man dem König nicht, sein Thron war bereits der Tisch, auf dem er das Opfer darbrachte, indem er festgehalten saß. Der König ist der Gesetzte und das Gesetz.

 

Thron und Altar sind eins. Der Thronsockel ägyptischer Throne, die Bühne des Theaters oder das Podest des Chorraums der Kirchen und Klöster sind archaische Elemente des Altars, auf denen Tod und Wiedergeburt inszeniert wurden. Das griechische Theater machte seinen rituellen Hintergrund noch transparent, im Fest zu Ehren des Dionysos. Im Zentrum der Bühne stand der Dionysos-Altar, die Thymele. Der erste Schauspieler, der aus dem Chor heraustrat, setzte sich auf die Thymele wie auf einen Thron und bot sich auf dem Altar, der Tisch und Stuhl war, als Opfer dar. Das griechische Theater war die Fortsetzung eines alten Kultes, in dem der Altar den Mittelpunkt bildete. Wenn die Pythia in Delphi das Orakel verkündete, saß sie auf dem Dreifuß, einem Tisch, der ebenso Thron war.

 

Der festgefügte Tisch gelangt im Abendland, oh­ne an antike Tischformen anzuknüpfen, über den christlichen Altar in den Alltag. Der Altar hat sich aus dem Tisch entwickelt, an dem sich die frühen Christen allabendlich zum Speisen und zur Andacht trafen und sich wie Jesus und seine Jünger legten und nicht setzten. Die christliche Formulierung des Throns ist das Kreuz Christi. Der Kirchenälteste, der spätere Bischof las aus heiligen Texten vor und segnete die Speise. Mit dem Verlegen der abendlichen Zusammenkünfte auf den Sonntagmor­gen wurde das Speisen die Angelegenheit der Familie und der Abstand zwischen Priesterschaft und Gemeinde nahm zu. Aus der Kreisform um den Tisch wurde ein langgezogenes Rechteck, wodurch die Laien den Klerikern in größerer Distanz gegenüberstanden. Indem das abendliche Speisen in ein symbolisches Tun aufgelöst wurde, konnte es sich zur rituellen Form des Gottesdienstes entwickeln und der Speisetisch des abendlichen Mahls wandelte sich zum christlichen Altar. Nun erhielten die Bischöfe Sitze, die Kathedra, und die Priester Bänke. Die verdinglichten Raumformen dieses Prozesses sind die ersten christlichen Kirchen, mit der für sie charakteristischen Längung des Kirchenraums. Mit ihnen hat die Christenheit in der Zeit Konstantins des Großen einen eigenständigen Kirchenraum erhalten und dem entstandenen Altar einen festen Ort gegeben. Es ist allein der Opfertisch, der Altar, der die extreme Spanne der Opposition von kniender und stehender Gemeinde zum sitzenden Klerus überbrückt, und der als kultische Mitte die Einheit der christlichen Versammlungsräume und die Kirche der Christen als architektonisches Gebilde hervorgebracht hat. Der Tisch ist die Grundlage der christlichen Kirche. Später wird ein Stuhl die Basis für eine spezielle Kirche: die Kathedra des Bischofs für die Kathedrale.

 

Wie die Mitglieder der Gemeinde stehen und knien die Mönche während des Gottesdienstes. Um den von Benedikt von Nursia geforderten Wechsel von Stehen, Sitzen und Knien an einem eng begrenzten Ort durchführen zu können, haben sie um die Jahrtausendwende das Chorgestühl entwickelt. Der Mechanismus, der dies ermöglicht, ist ein Klappsitz. Neben dem Knien, Sitzen und Stehen erlaubt er im hochgeklappten Zustand durch seine verbreiterte Vorderkante eine vierte Haltung, die mittlere Position zwischen Sitzen und Stehen. Die Schulterringe des Gestühls, auf die man während des Stehens die Arme legen kann, erlauben eine fünfte Position: ein Hängen oder gestütztes Stehen. In jeder Haltung bleibt der Bezug auf den Altartisch erhalten. Neben dem Sitzen im Chor haben die Mönche beim Lesen, Illustrieren und Schreiben an einem Katheder gesessen, das sich aus der Zelle des zweireihigen Chorgestühls entwickelt hat, bei dem die jeweilige Vorderreihe der nachfolgenden als Tisch dient. Im Mechanismus des Chorgestühls und am Katheder bilden die Mönche ein Spektrum fein abgestufter Haltungen aus. Da man das Vermögen verliert, für länger frei zu stehen, wenn man sich stützen­der Geräte erst einmal bedient, verfügen die Mönche wie der König über ein hohes Maß an Dis­ziplin, einen zugerichteten Leib und eine sich darin einstellende Formung des Geistes. Im klösterlichen Sitzen werden die christlichen Tugenden des Kreuzes und die Merkmale des königlichen Throns ins Organische hineingetrieben. Die Mönche übernehmen das Sitzen der Bischöfe, Priester und Könige und stellen es auf eine breite Basis. Auch hierin werden die Klöster zu Laboratorien der Zivilisation.

 

Mit dem Katheder und dem zwei- und mehrreihigen Chorgestühl haben die Mönche dem repräsentativen Thronen des Königs und des Bischofs den Tisch hinzugefügt. Sie werden zum Vorbild für die Einrichtungen der Bildungsstätten des Abendlandes wie Schulen und Akademien. Das Sitzen und das Sitzen am Tisch in Bildungsanstalten und anderen Institutionen sind Teil eines Kultes vor dem Katheder, dem Podium und der Bühne, vor dem Monitor und der Leinwand, der seine Mitte im Opfertisch hat. Das Kultische wird im Vordergrund zelebriert, während der Tisch nah an den Stuhl heranrückt und den Körper diszipliniert. In den Lerninstitutionen durchläuft jeder noch einmal die Umwandlung des Kultischen ins Disziplinäre. Tisch und Stuhl schließen sich zusammen, halten die Beine an, zwingen die Augen zur Fixierung und die Hand zum Schreiben.

 

Findet das klösterliche Sitzen seinen Niederschlag in den bürgerlichen Bildungseinrichtungen, so das Thronen des Königs im repräsentativen Sitzen des Bürgers. Das Sitzen beim königlichen Bankett, eine Imitation des christlichen Abendmahls, findet seinen Niederschlag im Sitzen am bürgerlichen Esstisch.

 

Ein anderes Vorbild für das Sitzen der Bürger an Tischen bieten die Sagen um den König Artus. Artus ist nicht mehr nur der einsam thronende und geopferte König, sondern die Sage hat ihn an einen gastlichen Tisch gesetzt und lässt ihn seine königlichen Tugenden öffentlich zur Schau stellen. Er sitzt an einem runden Tisch, an dem er, inmitten gleichberechtigter Ritter, die Fürsten und Könige sind, residiert. Die Rundform des Tisches, die durch das Fehlen der Ecken eine ranglose Ordnung suggeriert, hat die Artusrunde, trotz ihres aristokratischen Wesens zu einem Sinnbild demokratischen Sitzens gemacht. Das Leben am Artushof orientiert sich weitgehend am Leben Christi. Der Sitz rechts neben Artus blieb, wie der Sitz zur Rechten Gottes frei. Er gehört dem Ritter, der unter größten Entbehrungen Abenteuer durchsteht und - der Passion Christi vergleichbar - bereit ist, sein Leben für die in Not Geratenen zu geben. War der Platz neben Artus auch ausgezeichnet und wird das Bürgertum später den eckigen Tisch bevorzugen, die im runden Tisch empfundene Idee der sozialen und politischen Gleichheit ist ein inspiratorisches Bild für das Bürgertum geworden, und obwohl es in der Zeit keine runden Tische gab, der König nimmt zunehmend am Hofleben teil. Es waren allerdings komplizierte Verfahren erforderlich, ihn in die Gemeinschaft am Tisch einzugliedern. Er saß am Kopfende eines rechteckigen, meist niederen Ti­sches oder in der Mitte der Längsseite. Die Ränge nahmen zu beiden Seiten ab. Eine überlieferte Begebenheit macht deutlich, dass die Ordnung um den am Tisch thronenden König als Abbild einer festgefügten, göttlichen Ordnung angesehen wurde. Als die deutschen Fürsten im Jahre 1298 in Nürnberg zusammenkommen, um dem neuen König Albrecht I. zu huldigen, verlässt der Erzbischof von Köln zornentbrannt den Speisesaal und fordert seinen Amtsbruder, den Erzbischof von Mainz zum Zweikampf heraus, weil dieser gewaltsam den Platz rechts neben König Albrecht eingenommen hatte.

 

Der gewachsene politische Einfluss des Bürgers bringt eine neue Ordnung des Sozialen hervor und erlaubt ihm, das mönchisch-christliche Sitzen und die herrscherliche Geste königlichen Thronens zu imitieren und den Chorstuhl und den königlichen Thron zum Stuhl zu profanisieren. Die Bürger entwickeln keinen eigenen Lebensstil, sie orientieren sich an den Lebensformen der Höfe und Klöster und an den Bildern der christlichen Kunst. Die christliche Bildkunst hat Jesus Christus nahezu ausschließlich auf Stühlen sitzend wiedergegeben, so wie Luther in seiner Bibelübersetzung das Liegen am Tisch jeweils mit Sitzen übersetzt.

 

Mit der Reformation fordert die protestantische Gemeinde die Bestuhlung ihrer Kirchen, erst über ein Jahrhundert später die katholische Gemeinde. Wie der Bürger am kultischen Geschehen um den Altar nicht länger stehend, sondern sitzend teilhaben will, so will er auch in der Wohnstube nicht auf Tisch und Stuhl verzichten. Das Mittelalter kennt Stühle oder festgefügte Tische nicht. Wird die Tafel zum Essen aufgestellt, hockt und kauert man auf niederen Schemeln und Bänken um sie herum, ruht auf beliebigen anderen Objekten oder man steht. Die Tafel, aus zwei Böcken mit aufgelegter Platte bestehend, wird nach dem Essen wieder abgebaut. Mit der Festigung des Bürgertum dringen in diese stuhl- und tischlosen Häuser Stühle und Tische ein, die im Abendland gemeinsam an der Zurichtung des Menschen arbeiten. Das Sitzen am Tisch befördert die Konzentrationsfähigkeit und die Ausbildung einer asketisch-rationalen Lebensführung. Der Stuhl hat die Füße stillgestellt und das Territorium des Menschen auf die Fläche des Sitzes verkleinert. Dem Ausschreiten, den ausladenden Gesten und vitalen Handlungen hat der Tisch eine Fläche entgegengesetzt, auf der der Mensch seine Zeichen entfalten kann. Eingeengt zwischen Tisch und Stuhl, bewegungsarm in der größtmöglichen Zurücknahme des Körpers, geht die Hand den Weg der Schrift oder übt sich in Geschicklichkeit. Geschicklichkeit als die Sprache des Körperlichen, die Handschrift des Handwerks. Indem die Objekte auf dem Tisch in beliebigen Positionen stabilisiert werden können, hat man beide Hände zur Bearbeitung frei, ohne die Objekte halten zu müssen. Tisch und Stuhl halten auch den Menschen. Sie fügen ihn in feste Rahmen und geben ihm eine schematisierte Haltung im Raum. Die geordneten Distanzen durch den Stuhlrahmen, die Sicher­heit im eng begrenzten Territorium Stuhl und die Gleich­heit der Sitz- und Versamm­lungssituation am Tisch werden be­stim­mend für die Art, in der sich Bür­ger versammeln.

 

Das häusliche Leben verlagert sich von der Küche in die Stube und vom Herd an den Esstisch. Der Herd, die einstige heidnische Opferstelle, ist bis dahin die symbolische Mitte des Hau­ses, um die man nah bei­einander als auch ständig in Bewegung war. Er tritt seine Stellung an den Esstisch in der Wohnstube ab, an dem man beim Essen gesittet sitzt. Das Bürgertum macht die Wohnstube zu einem Kirchenraum im Raum des Profanen. Der als heidnisch angesehene Herd in der Küche wird durch das Zeichen des christlichen Altars, den Esstisch, in der Stube ersetzt. Der Esstisch wird der Ort, an dem man wie die frühchristliche Gemeinde täglich zusammenkommt, speist und sich innerlich sammelt. Das Sitzen am Tisch begrenzt Haltungen und Leibesbewegungen, die Intimität ermöglichen. Die sinnliche Nähe der Menschen zueinander wird in eine Distanz geordnet und die Körper werden in eine Haltung gebracht, die eine verhaltene, ein leibliches Zurückhalten ist. Am Ende wird für die im Mittelalter übliche Nähe der Menschen zueinander eine Ordnung geschaffen, in der die Sinne geformt werden. Unterstützt durch das Essen mit Messer und Gabel und ideologisch durch die Tischzuchtliteratur begründet, gräbt sich die Civilité in Seele und Leib des Bür­gers ein, bis das von den Bürgern übernommene höfische Verhalten zum Standard der Bürgerlichkeit wird. Man be­nutzt keine gemeinsame Schüssel mehr, in die man etwa das Brot getunkt hat, und legt in diese, was man schon im Mund hatte, nicht mehr zurück. Man schnäuzt nicht mehr ins Tischtuch, sondern bedient sich der Serviette und verhält sich ernst und unauffällig. Fuß und Hand des bürgerlichen Menschen sind zugerichtet, geschult und domestiziert.

 

Die Institution, die den Menschen zum Homo se­dens macht und Hand und Fuß formt, ist die Schule. Mönche und andere Gelehrte schrieben zunächst in einer Art Schneidersitz. Sie nutzten ihre Knie als Unterlage, auf die sie gelegentlich ein flaches Pult stellten, bevor mit dem Chorgestühl das niedere Katheder mit extrem geneigter Schreibauflage, an dem sie saßen, entwickelt wurde. Aus ihnen leitet sich die Schulbank ab. In der Schule werden zwei für den zivilen Menschen wesentliche Fertigkeiten eingeübt: das Sitzen auf Stühlen und das Schreiben am Tisch. Das frühzeitige Sitzen auf Stühlen trifft den ganzen Menschen. Es blockiert die leiblichen Entfaltungsmöglichkeiten und wirkt prägend und normierend auf Physis und Psyche. Das Kind wächst in den Stuhl hinein, der den wachsenden Organismus allmählich zur Sitzhaltung formt und festigt. Der kindliche Lebenswille, der im frühen und systematischen Einüben ins Sitzen auf Stühlen begrenzt wird, richtet sich nach innen, auf die Gestaltung physischer und psychischer Formen, die einen inneren Stuhl bilden. Der flache Atem und sein Muster, der erhöhte Tonus der Muskeln, ihre spezifische Beanspruchung und die Auswirkung auf den Knochenbau bilden den physischen Stuhl. Gebremste Gefühle und ihre Färbung, die Formung des Denkens, der Wille, der die Ausgelassenheit verbietet, die Trauer über den Verlust an Authentizität sowie die Lust an der Beherrschung der eigenen Körperfunktionen bilden den psychischen Stuhl. Die aus der Sitzhaltung und der Ruhigstellung entstandenen Defizite suchen die ausgebildeten Sitzenden später in einem unablässigen und manischen Einrichten einer übersichtlichen Welt zu überwinden. Die rechtwinklige Sitzhaltung ist die rationalisierte Form des Leibes.

 

Die Leibeshaltung (Sitzen) und das Tun (Schreiben) begrenzen die kindliche Beweglichkeit von zwei Seiten her: vom Sitz und vom Tisch. Das Schreiben auf der Tafel oder dem Papier erfordert eine äußerste Körperbeherrschung und ein Höchstmaß an Disziplin. Man schreibt oder ritzt Buchstabe neben Buchstabe, setzt Zeile unter Zeile, schreitet auf der Unterlage linear voran. Man ist stillgesetzt und gebannt am Tisch, bewegt sich aber im Medium des Schreibens (und Lesens) und im Medium der Imagination und des Denkens.

 

Hier kommt die ursprüngliche Funktion des Tisches zum Vorschein: nämlich nicht Träger materieller Dinge (das Tier als Speise) zu sein, sondern Medium des Symbolischen (das Tier als Opfer). Im Schreiben, das eine widerstehende Fläche wie den Tisch erfordert, kommt die Altarfunktion des Tisches zum Ausdruck. Später im Beruf mag das Kind an Tischen arbeiten und handwerkliche Dinge herstellen, in der Schule wird es zunächst in die symboltragende Bedeutung des Tisches eingewiesen. In der Schule soll nicht vor allem ein besonderes Wissen, sondern die Fähigkeit erworben werden, Gedanken und Empfindungen mit der Hand in das Medium der Fläche zu übersetzen, aufzuschreiben und mitteilbar zu machen. Schreiben ist das Eingravieren abstrakter Zeichen in eine Fläche, in die sich einst das Opfer eingedrückt hat, das bereits Symbol war.

 

Wer das Sitzen am Tisch früh, systematisch und über eine lange Zeit erlernt hat, ist schlecht auf körperliche Arbeit vorbereitet. Dafür aber gut auf den Umgang mit geistigen Dingen. Wer Fertigkeiten wie das Konstruieren, Planen und Organisieren oder das Handhaben von Apparaten und Medien beherrschen soll, muss in der Lage sein, den Körper und den eigenen Willen zu bezwingen, um seine Intention auf das jeweilige Objekt konzentrieren und an ihm verschwenden zu können. Zurückhaltung wird derjenige besser üben können, der das Sitzen an Tischen früh erlernt hat. Die Tätigkeiten, die eine entwickelte Gesellschaft in der Lage sein muss auszuführen, erfordern den rationalisierten Körper. Das Sitzen auf Stühlen am Tisch bietet eine allgemeine Grundlage für das Handeln, Verhalten und das abstrakte Denken, wie sie in einer technologischen Welt erforderlich sind.

 

Wenn das Sitzen an Tischen der Gesellschaft und dem einzelnen zur Gewohnheit und zur Norm geworden ist, die Formung des Menschen in die rationale Lebensführung mündet und sich die Disziplinierung und innere Beruhigung vom Zwang zum Bedürfnis gewandelt haben, hat der Mensch die Weltanschauung, nach der König und Gott die Mitte besetzen, in ein anthropozentrisches Weltbild umgewandelt, in dem der Bürger selbst die Mitte einnimmt. Als Homo faber hebt der Bürger ab und sieht seine eigene Natur im Nichtnatürlichen, in der über alle Natur erhabenen Vernunft. In der Bemächtigungsstrategie des Sitzens distanziert er sich vom zusammengekauerten Formlosen des Mittelalters und gibt sich im Sitzen eine Kunstform, eine zivile und prägnante Leibeshaltung. Die Profanisierung des Throns zum Stuhl macht den Sitzenden zur Verkörperung der göttlichen Herrschaftsgeste. Die Philosophie der Neuzeit ist ein Bemühen, das bürgerliche Denken und Handeln an der Unbewegtheit auf dem Stuhl und den ordnenden Vorgaben des Tisches auszurichten und in logische und zielstrebige Abfolgen einzubinden.

 

Das Wiener Caféhaus-Mobiliar bringt die geistigen und philosophischen Ambitionen der Bürger öffentlich zum Ausdruck. Für sie wird das Caféhaus zum öffentlichen Forum ihrer Bekenntnisse, auf dem sie ihren Lebensstil demonstrieren und ihre Selbständigkeit in philosophisch-politischen Diskussionen beweisen. Der sich frei fühlende Geist äußert sich in den Charakterisierungen der ersten Wiener Caféhäuser Griensteidl und Daum. Man nennt sie Café Größenwahn, Feentempel oder Zweites Parlament. Sie sind Orte des intellektuellen Austausches und Umschlagplätze für bürgerliche Utopien und freiheitliche Gedanken. Die Cafés, die sich von den Salons des Adels unterscheiden wollen, werden die geistigen Mittelpunkte des kulturellen Wien. Mit seiner Erschwinglichkeit, seiner Leichtigkeit und einfachen Gestaltung bringt der Wiener Caféhaus-Stuhl Bürgerlichkeit und das Freisein von Adel und Tradition zum Ausdruck und hat das Café und sein Mobiliar zu einem Sinnbild der politischen Gleichheit und der Rede- und Pressefreiheit gemacht. In der Mitte des 19. Jahrhunderts nimmt mit dem ersten in Massen herstellbaren Caféhaus-Stuhl das Bürgertum endgültig das Sitzen an und macht es zu einer im privaten, öffentlichen und beruflichen Leben verbindlichen Haltung. Von da aus erobert das Sitzen auf Stühlen unaufhaltsam alle gesellschaftlichen Bereiche der Arbeit und des kulturellen Lebens. Der Caféhaus-Stuhl tritt seinen Siegeszug um die Welt an und wird zum Boten eines neuen Menschen, des Homo sedens. Der Stuhl wird zum Massenstuhl, der de­mo­kratisierten Form des Throns, dem Thron der Masse.

 

Die Normalität, die das Sitzen an Tischen in einer Sitzkultur annimmt, verdunkelt die Physiologie der Haltung, die man dabei einnimmt. Orthopäden haben rasch erkannt, dass frühes und ausdauerndes Sitzen auf Stühlen krankmachend in den kindlichen Leib schneidet. Präzise haben sie die pathologischen Folgen der rechtwinkligen Haltung und der mangelnden Bewegung beschrieben. Diese Erkenntnis hat sie aber nicht davon abgebracht, den rechten Winkel zu idealisieren und in dieser Sitzhaltung das Zeichen menschlicher Souveränität zu sehen. Der Mechanismus rechtwinkligen Sitzens besteht darin, dass beim Wechsel vom Stehen zum Sitzen das Becken um etwa 40 Grad nach hinten dreht und die Wirbelsäule extrem beugt. Dabei werden die Skelettmuskeln verspannt, die Bewegung des Zwerchfells behindert, die Atmung in einen spezifischen Rhythmus gebracht, die sinnliche Wahrnehmung eingeschränkt und die vegetativen Impulse gehemmt. Diese ineinandergreifenden leiblichen Folgen der Sitzhaltung münden in einen Kreislauf sich verdichtender leiblicher Verfestigungen. Um eine bestimmte Sitzhaltung zu erreichen, sollten in den Anfängen der Orthopädie Geradhalter wie stählerne Stirnbänder oder Brustgurte von der Stuhlrücklehne her oder Orthostaten vom Tisch aus den Oberkörper auf Distanz halten und das Geradesitzen erzwingen. Heute greift der Ergonom direkt am Sitzmechanismus, dem Beckenbereich an. Man kommt vom Rücken her an den Sitzenden heran, indem die Rücklehne, oder vom Gesäß her, indem die Sitzebene besonders gestaltet wird. Immer geht es darum, eine zusätzliche Rückdrehung des Beckens zu behindern, damit der Sitzende den Rumpf aufrecht halten kann. Orthopäden, Ergonomen und Designer versuchen, mit Hilfe geeigneter Tische und Sitze dem Sitzen die schädigende Wirkung zu nehmen und eine gute Sitzform zu gewährleisten, die Bewegungsarmut erträglich und ein langes Arbeiten am Tisch möglich zu machen. Aber gerade die Druckbelastung der Lende, die Rückdrehung des Beckens und seine Fixierung auf dem Stuhl sowie die Festsetzung vor dem Tisch und die Verflachung des Atems sind wesentliche Ursachen der zunehmenden Rückenleiden. Dem versucht man mit der Einrichtung von Rückenschulen zu begegnen. Rückenschule ist der Name für etwas Absurdes, nämlich dass der Mensch in der Mitte seines Lebens - nach der Gestaltung und Festigung seines inneren Stuhls - noch einmal lernen muss, wie er korrekt geht, seinen Körper hält, wie er Gegenstände trägt, dreht oder anhebt, und wie er, vermeintlich, richtig sitzt. Die Rückenleiden sind zugleich Ausdruck emotionaler und geistiger Verhärtungen. Die Beeinträchtigungen infolge des Sitzens führen zu fehlerhaften Bewegungsabfolgen beim Gehen, Stehen und Ausführen jeglichen Tuns. Die gestörte Synästhesie setzt die sinnliche Wahrnehmung herab, führt zu einer Versteppung der Sinne und wirkt so irritierend und selbstlähmend auf das Wollen zurück. Die moderne Arbeitswelt wirkt dem entgegen, indem sie durch ihre rationale Struktur Funktionen der Sinne übernimmt: Das Geschick der Hände wird durch Maschinen und die Gedächtnisleistung des Gehirns durch Apparate und Computer auf ein Minimum reduziert.

 

Der Sitzende schreitet nicht aus, um Felder zu bestellen, Tiere zu jagen oder die Ernte einzuholen. Er sitzt kaum beweglich am Tisch und braucht nur eine knapp bemessene Fläche, die er vom Sitz aus, ohne die Füße zu bewegen, mit den Händen erreichen und ordnen kann. Diese Ebene ist der Acker des modernen Menschen, das strukturelle Abbild des realen Bodens. Hier sät er seine Saat. Hier holt er die Erträge seiner Arbeit ein. Auf ihr errichtet er seine Dörfer, seine Städte und die Welt der Maschinen. Zunehmend übernehmen Maschinen und Apparate das Halten und Bearbeiten des Werkstoffs. Die Handarbeit wird zum Begreifen und das Greifen reduziert sich auf das Schalten kleiner Hebel und das Berühren von Tasten und Knöpfen. Maschinen übernehmen die Kraft der Arme und die handwerklichen Fertigkeiten der Hände, so dass sich der Mensch auf das Planen und Konstruieren, auf das Kontrollieren und Organisieren konzentrieren kann. So bietet die Tischfläche ein besonderes Kommunikationsfeld und eine geeignete Umgebung, die den unbewegt Sitzenden am Tisch ungeheuer beweglich macht.

 

Stuhl und Tisch erobern immer mehr Terrain des öffentlichen und privaten Lebens. Sie vervielfältigen sich in Räumen, in die sie bereits eingedrungen waren. Neben den Esstisch gesellen sich Sitzecken, Blumen-, Rauch- und Nähtische, Ohrensessel, Teewagen, Kinderstühle oder Telefontische. Sie dringen auch in Bereiche wie Parkanlagen, Balkone, Sportarenen, Kontore und Fabriken ein, in denen sich das Stehen etabliert zu haben schien. Hat sich das Sitzen an Tischen schließlich in allen Bereichen ausgebreitet, stellen sich Abhängigkeiten ein: durch seine Normalität vom Gefühl der Sicherheit, aufgrund seiner Effizienz vom Gefühl der Macht. Infolge des Gebrauchs von Tisch und Stuhl und der Schwächung des Organismus entsteht das Bedürfnis, Tisch und Stuhl überall zur Verfügung zu haben. Strindberg bringt ein Gefühl der Macht zum Ausdruck, wenn er meint, er habe eine Korrespondenz mit wissenschaftlichen Autoritäten in Paris, Berlin, St. Petersburg, Peking, Irkutsk begonnen, und halte an seinem Schreibtisch die Fäden zu einem Netz von Verbindungen, die sich über die gesamte Alte Welt erstreckten. Kafka betont im Hinblick auf eine geplante Reise, dass er zumindest einige Tage vom Schreibtisch abgehalten sein würde und dass diese lächerliche Überlegung in Wirklichkeit die einzige berechtigte sei, da das Dasein des Schriftstellers vom Schreibtisch abhinge. Er dürfe sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen wolle, niemals vom Schreibtisch entfernen, sondern müsse sich mit den Zähnen daran festhalten. Beide sprechen von einer imaginierten Macht, die an das Sitzen an Tischen geheftet ist und die der heutigen Wirklichkeit sehr nahe kommt. Beckett schreibt von der geistigen und körperlichen Schwäche infolge des einmal begonnenen Sitzens: „Eines Tages wirst du dir sagen: Ich bin müde, ich setze mich, und du wirst dich setzen. Dann wirst du dir sagen: Ich habe Hunger, ich steh jetzt auf und mach mir was zu essen. Aber du wirst nicht aufstehen. Du wirst dir sagen: Ich hätte mich nicht setzen sollen, aber da ich mich gesetzt habe, bleib ich noch ein wenig sitzen, dann steh ich auf und mach mir zu essen. Aber du wirst nicht aufstehen und du wirst dir nichts zu essen machen.“ Nicht der geschwächte Organismus des Menschen verlangt nach einer Entlastung durch den Stuhl. Umgekehrt ist es das Sitzen auf Stühlen, das den Organismus schwächt und einen Zwang zum Sitzen erzeugt. Sitzen ist weder normal noch gesund, noch bequem, es ist Schwerarbeit. So schreibt eine Sitzkultur das Sitzen fest und macht Alternativen zu Randerscheinungen. Etwa das Kniesitzen, das die Sitzgebärde mit der Demutsgeste des Kniens kombiniert, das Steh­sitzen, eine mittlere Haltung zwischen Stehen und Sitzen auf einem Stehsitz, oder das Stehpult, der erhöhte Tisch oder zweifach angehobene Erdboden, vor dem man frei steht oder geht. Allerdings vermag der heutige Mensch nicht über lange Zeit zu stehen, da heute jeder Sitzender ist, auch dort, wo er steht, hantelt oder joggt. Die Fähigkeit langen Stehens müsste erst wieder erworben werden, um den Weg zurück vom Gesäß auf die Füße zu schaffen. Tisch und Stuhl bauen einen individuellen und effizienten Kosmos auf, in dem der Sitzende eingeklemmt zwischen den einstigen Gestellen der Opferung sitzt und der Gefühle der Sicherheit, Müdigkeit, Abhängigkeit und Allmacht erzeugt. In der modernen Welt werden Tisch und Stuhl eng aneinandergefügt so weit verbreitet, bis alle möglichen Orte mit ihnen ausgestattet sind. Am Ende sind Stuhl, Tisch oder Tisch und Stuhl, wo immer man ankommt, schon da.

 

Am modernen Arbeitsplatz, einer Tisch-Stuhl-Kombination mit Monitor und Tastatur, kann der Mensch, ausgestattet mit hochtechnologischen Kommunikationsmitteln, ohne sich bewegen zu müssen, jeden erreichen, vieles organisieren und fast alles tun und in Bewegung setzen. Daneben gibt es für jedes Tun, jeden Ort und jede Funktion geeignete Stühle und Tische. Selbst die technisch in Bewegung gebrachten Aggregate wie Automobile, Busse, Züge, U-Boote und Flugzeuge werden bestuhlt und mit Tischen oder tischähnlichen Ablagen ausgestattet. Das schleunige Vorankommenwollen ist dabei nur die andere Seite der Unbewegtheit im Sitzen. Der Massentourismus, die Ästhetisierung des Krieges, die Fitnessbewegung und die nervöse Physis der Abendländer sind Teil der Mobilität des modernen Alltags. Ebenso erhöhen die Medien die bewegungsarme Mobilität und binden den Men­schen in erdumspannende Netze ein. Die moderne Weise der Mobilität ist eine technische und liegt im geistigen, kommunikativen und reisenden Unterwegssein: gei­stig per Buch und Computer, kommunikativ per Telefon und Fax, reisend in geschwinden Transportmitteln. Im selben Maß, indem der Mensch, der die Medien mit sich trägt, seine Mobilität erhöht, nimmt seine Sesshaftigkeit zu und die letzten Reste des Zwangs zur Bewegung werden beseitigt. Der Umgang mit den Medien zwingt den Menschen zu einer immer rascheren Anpassung an das komplizierte Equipment und an die künstlich erzeugte Welt, zu einer Konzentration auf die Welt der Maschine, an der die Sinnlichkeit abgleitet und verkümmert. Die Arbeit am Monitor und die Enge zwischen Tisch und Stuhl treibt den Menschen in eine Di­stanz zur eigenen Natur und zur Umwelt, in eine Distanz, die virtuelle Realitäten schafft. Das Ideal effizienter Arbeit und eines Menschen, der, ohne sich von der Stelle bewegen zu müssen, doch allgegenwärtig ist, ist eine Allmachtsphantasie der Menschen, die im Verlauf der Geschichte ihre Reichweite ins Unermessliche gesteigert und zugleich die Welt über die Stationen Kosmos, Heiliger Bezirk, Thron, Haus, Stube und Stuhl auf ein ihnen handhabbares Maß verkleinert haben. Am Ende der Entwicklung klappt der Raum in die Ebene des Monitors, den vertikalen Beistelltisch und verschwindet. Auch die leibliche Seite des Menschen verschwindet in der Handhabbarkeit und Unermesslichkeit seiner Weltbemächtigung. In dem Werbeslogan eines Netzwerkunternehmens „In unserem Unternehmen herrscht Gehverbot“ wird der Mensch in einem entmaterialisierten Handeln und Beschaffensein idealisiert: In der Entmaterialisierung offenbart sich eine Philosophie, die im Stillgesetztsein des Menschen auf dem Stuhl vor dem Monitor ihr Ideal sieht. Eine Ideologie der Unbewegtheit. Nach der Vorstellung richtet der Mensch vom Tisch aus mit seinen gewaltigen Geisteskräften die Welt nach denselben Regeln zu, nach denen er sitzend seinen Leib bezwingt, und überführt sie in eine geistig geformte Welt mit synthetischen Materialien, geraden Kanten und präzisen Logiken. Die Rätsel und das Vielfältige, das Rauhe, das Zerbrechliche und die Beweglichkeit des Lebens könnten nicht mehr ertragen werden, da sie den Verlust beinhalten und die Traurigkeit vertiefen würden. Das Ideal der Unbewegtheit ist ein äußerstes Maß an Zurichtung und die abstrakteste Form des Daseins. Das Sitzen am Tisch ist der kleine Tod zu Lebzeiten.

 

Dem Ideal der Unbewegtheit kommt ein modernes Möbel entgegen, ein Tischstuhl oder Stuhltisch, der schon das Kleinstkind auf den Bewegungsverzicht vorbereiten möchte. Das Kind wird in einen Raum zwischen Sitz und Tischplatte gezwängt, in dem es sich kaum bewegen kann. Das Wahrnehmungsfeld soll auf die kleine Ebene des Tisches konzentriert werden, auf der die Hände die Objekte greifen können. An den Esstisch herangezogen kann das Kind in der Haltung der Erwachsenen mit diesen kommunizieren. Das Kind soll sich von Anbeginn an nicht unterscheiden. Es nimmt von Anfang an an der Verkörperung des Homo sedens teil, als handle es sich um eine dem Menschen angeborene Haltung. Später wird man vielleicht darüber streiten, ob die Sitzhaltung umweltbedingt oder angeboren ist.

 

Gründet der Thron einst eine Gemeinschaft und gibt ihr eine geweihte Mitte, gibt der Stuhl der kleinsten Zelle der Gemeinschaft, dem Individuum, einen eigenen Ort. Während man ursprünglich den einen setzt, damit sich viele bewegen können, muss der Mensch heute sein eigener Priester und König sein. Die weite Verbreitung von Tisch und Stuhl hat dazu geführt, dass nicht der eine für viele festgesetzt wird, sondern dass jeder sich selbst stillsetzt. Der Sitzende erbringt sein Selbstopfer und wächst mit dem Tisch zu einer selbstorganisierenden Einheit zusammen. Sein Glaube an die Götter ist erloschen und zwischen Tisch und Stuhl hat er seinen eigenen, selbstgenügsamen Ort erhalten. Mit ihrer Ausbreitung haben Stuhl und Tisch ein dichtes Netz solcher Orte der Selbstgenügsamkeit und der Selbstreferenz über die Erde ausgebreitet. Der Mensch besetzt den Ort, der ihm Rätsel, von denen er sich absetzen konnte, aufgab. Er hat die Wege zu seiner Sinnsuche verschlossen und kommt nur schwer von der Stelle. Die Innenansicht des modernen Menschen, die im Sitzen an Tischen ihren körperlichen und symbolischen Ausdruck findet, ist ein Mosaik paradoxen Empfindens und Handelns: Schemata eines gelähmten und eines gelösten Denkens, Muster des Gebanntseins und der Sicherheit, Ordnungen der Macht und der Niedergeschlagenheit. Melancholische Bilder des Festgesetztseins und Nichtvorankommens.

 

 

© Hajo Eickhoff 1995

 




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