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aus: Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München Wien 1993

 



Intergalaktische Visionen

des Sitzens

 


Gesetzgebende Mächte, die ihren Einfluß verlieren, hinterlassen unvermeidlich Chaos. Die mit der Neuzeit anhebende Kritik an Einrichtungen des christlichen Glaubens steigert sich im 19. Jahrhundert zur Kritik an diesem Glauben selbst. Kierkegaards „Gott ist Subjekt“ und Schopenhauers „Die bestehende Welt ist die schlechteste aller möglichen“ fügt Nietzsche ein lapidares „Gott ist tot“ hinzu. Das in den Formeln zum Ausdruck gebrachte Reißen in der Welt beschwört Katastrophen, führt zu Angst und Chaos und ruft den artusritter­gleichen Daniel Paul Schreber (1842-1911) auf, die der Welt geschlagene Wunde auszuheilen. In seinen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken beschreibt er seinen Wahn und führt aus, wie man die Welt zu therapieren hätte. In der Spanne von Gericht und Orthopädie, Sitzen und Wahnsinn bewegt sich sein Bericht. Neben königlichen und kirchlichen Würdenträgern wächst Schreber zum ersten wahrhaft bürgerlichen Menschen, zum Bürger, der sich anmaßt, öffentlich zu proklamieren, die moderne Jungfrau Maria oder Gott selbst zu sein. Schreber ist der Schreiber und Streiter für ein anthropozentrisches Weltbild. Zugleich wird er das Feld, auf dem der Konflikt des Bürgertums mit seinem ins Nebulöse verflüchtigten Gott sichtbar wird, so daß in seiner Persönlichkeit private und öffentliche, individuelle und gesellschaftliche Instanzen miteinander streiten.

 Werden zentrale Institutionen brüchig, bleiben für ein erträgliches Dasein nur Resignation, passives Einordnen ins Bestehende oder die eigene Vermessenheit. Im letzten Fall unterliegt man dem Zwang zur Verwandlung und permanenten Abgrenzung gegen andere. Aber der Glaube an die eigene Auserwähltheit bietet Antriebe zum Weitermachen. Schre­ber wählt eine Variante des letzten Weges: das Wähnen als ob. Diese Haltung gibt ihm die Freiheit zu sehr allgemeinen Abgrenzungen, und immer flieht er dabei in abstrakte Räume. Er überhöht sich in verkleideter Form als der Nichtnormale, der Verrückte oder Auffällige. Und er fällt weit nach oben. Im gesellschaftlichen Umgang erweist sich Daniel Paul als bescheiden, aber er maßt sich Unerhörtes und Noch-nie-Gesehenes an. Er fragt nicht, ob er auf Erden etwas Außergewöhnliches wird, er unterstellt selbstbewußt und zuversichtlich, daß der zur Diskussion Stehende ein Auserwählter und ohne eigenes Verschulden verrückt Gemachter ist, der aufgrund von Herkunft und besonderen Begabungen über außerordentliche Fähigkeiten verfügt und Geschichte machen wird.

 Der weltordnungswidrige Riß durch die Welt, eine Krise von Religion und Politik, entstehe durch Turbulenzen um seine Person. Gegen ihn habe sich eine Verschwörung gebildet, in die auch Gott verstrickt sei, um Seelenmord an ihm zu verüben. Aber dank der Kräfte seiner Nerven sei es ihm gelungen, eine solche Anziehung auf Gott auszuüben, daß dieser seine aggressiven Absichten gegen ihn aufgegeben habe. Am Ende steht die Hoffnung, daß er sich in ein Weib verwandelt und mit Gott eine neue Menschheit hervorbringen wird. Schreber hofft, daß er durch eine enge Bindung Gottes an seine Person die familiären und die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit lösen kann. In seiner Gottähnlichkeit sieht er Chancen zu einer Überwindung weltordnungswidriger Zustände.

 Schreber hat in den Bericht religiöse und politische Vorstellungen eingearbeitet, die weit über seine Person hinausweisen, mag seine Weltsicht auch ein Wahn sein. Es ist eine frohe Botschaft, die der Religionsstifter Schreber dem vor allem protestantischen Bürgertum verkündet. Sie könnte lauten: „Nutze du, Bürger, das Chaos der Zeit und setze dich auf den heiligen Thron Gottes, denn du selbst bist Gott. Ich zeige dir Weg und Perspektive. Aber auch den Preis.“ Der Bericht wird hier nicht in erster Linie als Wahnsystem, sondern im Kontext des 19. Jahrhunderts als Text gedeutet, der einen neuen Menschen ankündigt.

 Sein Religionssystem mag skurril anmuten, aber es ist eine Konsequenz der neuzeitlichen Sicht von der Welt und widerspricht weder den Grundsätzen einer bürgerlichen Politik noch der christlichen Religion. Im Gegenteil. Schreber postuliert lediglich Forderungen, die das Bürgertum bereits im 16. Jahrhundert aufgestellt hat: nämlich daß der Bürger sich endlich an Gottes Statt auf den Thron setze und das Zepter über die Welt annehme. Als Kind hat er ein bürgerliches Leben erfahren, jetzt führt er es bewußt und wahnhaft in Inszenierungen des Verrücktseins vor. Die Denk­würdigkeiten können als eine Anleitung zu einem christlich-bürgerlichen Leben und dessen Gefahren gelesen werden. Schrebers Wahn, darin liegt die eigentliche Pointe seines Berichts, ist zugleich die Verrücktheit eines einzelnen Menschen und der Wahn einer ganzen Klasse. Er offenbart die Grenzen einer verbürgerlichten, das heißt sitzenden Lebensweise.

 So wie ursprünglich Gott und König die zentralen Bezugspunkte des Kosmos bilden, so hängt sich nun selbsterkoren ein Senatspräsident mitten in die bedeutungsschwangere Mitte, um einen Riß zu kitten, der auch durch ihn selbst hindurchgeht. „Ich kann diesen Punkt kurz dahin bezeichnen, daß Alles, was geschieht, auf mich bezogen wird ... Nachdem Gott zu mir in Nervenanhang getreten ist, bin ich für Gott in gewissem Sinn der Mensch schlechthin oder der einzige Mensch geworden, um den sich Alles dreht, auf den Alles, was geschieht, bezogen werden müsse und der also auch von seinem Standpunkt alle Dinge auf sich selbst beziehen solle.“

 Schreber stutzt den Kosmos zurück in sein privates Domizil, so wie es sein Vater zuvor mit der Zurichtung der Natur zum Schrebergarten gemacht hat. Sonnensysteme werden aus ökonomischen Gründen reduziert, Sternenhaufen zusammengezogen zu einer einzigen Sonne, oder ganze Galaxien werden abgehängt, um Schlimmeres zu vermeiden. Dem Vermeiden des Schlimmeren steht die Idee gegenüber, mit einer neuen Menschheit eine bessere Welt einzurichten. Aber schon der Vater hegt Vorstellungen von den Vorzügen des Anfangs. Man müsse den kindlichen Leib der streng geregelten Fürsorge durch beständige Korrekturen unterwerfen. Danach müsse man nicht länger relativierend das Schlimmste vermeiden, sondern könne sich auf die Herstellung des Wertvollsten, auf Ebenmaß und rechte Winkel, konzentrieren. Aller Wildwuchs sei zu begradigen. Das Wilde und Krumme gilt ihm als Ausdruck von Eigenwilligkeit und Mangel an Selbstbeherrschung: „Unterdrücke im Kinde alles, ... leite es beharrlich hin auf alles, was es sich angewöhnen soll ... Indem wir das Kind gewöhnen, bereiten wir es vor, späterhin das Gute und Rechte mit Bewußtsein und aus freiem Willen zu tun.“

 Beharrlich wiederholte körperliche Ermahnungen und Gewöhnung bis zur Erreichung des Zwecks seien wesentliche Bedingungen des Verfahrens. Danach genüge ein Wort, ein Blick oder eine drohende Gebärde, und man sei Herr des Kindes für immer. Spuren der Erinnerung an die Konsequenzen finden sich in den Sätzen, mit denen später die inneren Stimmen den Sohn bedrängen: „Nicht auf die erste Aufforderung« und »ein angefangenes Geschäft muß vollendet werden“ Die Beharrlichkeit, die der Vater eingraviert, wird über die inneren Stimmen wiedererinnert. „Aus freiem Willen“ und „Herr des Kindes werden“ bilden die beiden Pole des Widerspruchs einer auf Sedierung ausgerichteten Ordnung. Der Wille des einzelnen ist nur dann frei, wenn er mit dem gesellschaftlichen Willen zusammenfällt; eine überzogene Fassung des kategorischen Imperativs von Kant. Auf den Feldern des kindlichen Leibs von Besonderheit und Vielfalt wird ein gesellschaftliches Gesetz der Stereotypie und Einheit errichtet, das Unterordnung, Zwang und Anpassung heißt. Alle Pädagogik, die zur Freiheit erzieht, arbeitet innerhalb solcher Widersprüche. In der Auseinandersetzung zwischen dem Wollen des einzelnen und einem gemeinschaftlichen Wollen vertritt Schreber mit aller Härte dem Kind gegenüber den Standpunkt der Gemeinschaft. Daß es sich tatsächlich um ein politisches Kräftemessen handelt, demonstriert er in einer vertragsähnlichen, erzwungenen Verpflichtung des Kindes, dem Erziehenden nach jeder Bestrafung die Hand zu reichen: eine Art orthopädischer Feudalismus oder eine feudalistische Erziehung, und doch ganz und gar bürgerlich. In dieser Geste offenbart sich der Zusammenhang von Unterdrückung, Rache und der Hoffnung, das Entstehen von Ressentiment und Rache unterlaufen zu können. Schreber ist ein Orthopäde mit politischen Grundsätzen, die dem Protestantismus verpflichtet sind: Wahres Leben beginnt, von Kindheit an, als Absterben und Tod. Das Abzielen auf das Gute und Beste des Kindes ist immer ein Zielen auf das Leben selbst, wirft aber genaugenommen nur ein Licht auf den Erzieher. Zwar schreibt Schreber, daß Bewegung das Element des körperlichen Lebens sei, doch meint er dabei geformte Bewegung. Alles in seinem Sinn Ungeformte, wie etwa das nicht rechtwinklige Sitzen, gilt ihm als Unkraut, das schon im Keim auszurotten sei.

 Um die erfahrene Schädigung der körperlichen Integrität zu erläutern, unterscheidet der von dieser Unterdrückung durch den Vater heimgesuchte Sohn Daniel Paul präzise zwischen einer totalen und einer relativen Bewegungseinschränkung von außen. Die totale Einschränkung ziele darauf ab, ihn bei jeder gerade ausgeübten Beschäftigung zu stören oder an jeder gerade eingenommenen Haltung zu hindern. Man wolle ihn als Raum einnehmendem Wesen den Lebensraum entziehen und seine Existenz vernichten. „Überhaupt wollte man mich in keiner Stellung oder bei keiner Beschäftigung lange dulden; wenn ich ging, suchte man mich zum Liegen zu zwingen, und wenn ich lag, von dem Lager wieder aufzujagen. Daß ein tatsächlich nun einmal vorhandener Mensch doch irgendwo sein müsse, dafür schienen die Strahlen kein Verständnis zu haben.“

 Die relativen Einschränkungen erlebt er als die Anstrengung, eine Stellung, die er gerade einnimmt – und man nimmt zwangsläufig eine ein –, zu korrigieren. Er beschreibt sie als wunderhafte Erlebnisse des Fest­ge­setztseins, die er in den orthopädischen Apparaturen erfährt, die der Vater experimentell an seinen Kindern erprobte. Es sind vor allem Erlebnisse der Verwundung und des Verletztseins, der Trauer und Wut über das Bestreben, ihm Autonomie und Willen zu rauben. „Ich kann sagen, daß kaum ein einziges Glied oder Organ meines Körpers vorhanden ist, das nicht vorübergehend durch Wunder geschädigt worden wäre, keine einzige Muskel, an der nicht durch Wunder herumgezerrt würde, um sie ... in Bewegung zu setzen oder zu lähmen.“

 Eine der mit dem Sitzen zusammenhängenden wunden als Resultat der väterlichen Bewegungsbehinderung nennt Daniel Paul Steißbeinwunder. Bei der Verwundung handelt es sich um einen knochenfraßartigen, schmerzhaften Zustand, der den Zweck hat, das gerade Liegen und das aufrechte Sitzen zu erzwingen. Der Vater schreibt: Bei der sitzenden Haltung solle man darauf achten, daß „Kinder stets gerade und gleichseitig aufsitzen, ... weder mit der rechten, noch mit der linken Seite angelehnt“. Der Wiederholung und Gewöhnung wird ein großes Gewicht beigemessen, wobei mit wiederholten Eingriffen an eine Norm gewöhnt werden soll, die sich an die geometrischen Grundformen von Kreis und Gerade anlehnt. In der Sitzhaltung, wie sie sich die Orthopädie bis heutzutage vorstellt, berühren weder Steißbein noch Sakrum den waagerechten Sitz, aber im Bemühen, aufrecht zu sitzen und die Lende zu lordosieren, werden insbesondere in der Phase der Einübung ins Sitzen Spannungen in der Sakralregion erzeugt, durch die es zu Taubheit und sensiblen Irritationen kommen kann. Daniel Paul spricht in dem Zusammenhang von Unterleibsfäule. Da der Vater davon ausgeht, daß jede leibliche und seelische Abweichung von der Norm durch beharrliche Manipulationen korrigierbar ist und sich zum Beispiel abstehende Ohren in eine Normalstellung überführen und stumpfe Nasen durch „sanftes, aber oft (täglich 2-3mal) wiederholtes und über einige Monate fortgeführtes Herabziehen der Nasenspitze“ regulieren lassen, hat er vermutlich in der Einübungsphase des Geradesitzens dem Zurückbiegen der Lende in die Kyphose durch kleine unangenehme Reizungen der Sakralregion, die der Sohn als Verwundungen erlebt hat, entgegenwirken wollen. Dies ist um so wahrscheinlicher, als er die Wirkungen vom Leib auf die Seele in bezug auf Wollen und Geist kennt, denn das Ziel seiner Erziehung ist der vollkommene Bürger, „die denkbar höchste allseitige Ausbildung... in der Richtung nach gottähnlicher Geistesfreiheit, die möglichste Verwirklichung der Menschheitsidee“. Der Bürger gilt als der allgemeinere Mensch, als das Wesen mit gottähnlichen Kräften, dessen Pflege man nicht dem Zufall überlassen darf. Aber dazu muß der Mensch festgesetzt werden. In der Stillstellung des Leibs wuchert der Geist, in der Stillsetzung gedeiht er in geordneten Bahnen.

 Als zweites an das Sitzen gebundene Wunder nennt Schreber das Wunder der Engbrüstigkeit, das ihm als ein zentrales Wunder gilt. Es entstehe durch das Zusammenpressen des Brustkorbs und der damit einhergehenden Atemnot, die sich dem gesamten Körper mitteile. Er nimmt hier die zentrale Erkenntnis von Wilhelm Reich vorweg, dass die Atmung einen Hauptmechanismus zur charakterlichen Panzerung bildet. Mit der Wunde der Engbrüstigkeit spielt Schreber vor allem auf die Wirkungen der Geradhalter an, die durch starre Metallreifen um den Kopf den kindlichen Leib im Sitzen in eine straffe, aufrechte Haltung zwingen. Die Halter garantieren, daß Rumpf und Kopf nicht seitlich ausweichen können und in der Frontalebene die kyphotisierte Lendenwirbelsäule einem permanenten Druck in Richtung auf eine Lordosierung ausgesetzt ist. Das Wesentliche der Prozedur besteht aber nicht einmal darin, daß die Vorrichtungen hart ins Fleisch schneiden, sondern daß die Fixierung in der Sitzhaltung den Tonus der beteiligten Muskeln erhöht und daß zugleich die Lendenkyphose die Beweglichkeit des Brustkorbs und damit die Atmung stark einschränkt. So wirken die Geradhalter von zwei Seiten her auf die kindliche Physis ein. Nicht in erster Linie die Schnitte ins Fleisch und die Festsetzungen im räumlichen Sinn, sondern die mit der Sitzhaltung selbst, von innen her, gegebenen Formungen führen bei Schreber zum Wunder der Engbrüstigkeit, zur Wunde der Atemnot und zum daraus folgenden Weg in den Wahn.

 Man will den jungen Schreber also weder liegend, stehend, sitzend. Man möchte ihn deshalb hindern, reale Räume einzunehmen. Noch will man ihn so, wie er sich in dieser oder jener Position gerade befindet, und schränkt, wo immer möglich, seine Beweglichkeit ein. Nur in der relativen Bewegungseinschränkung wird ihm ein räumliches Dasein zugestanden. Man kommt von außen an ihn heran, greift formend in seine motorische Aktivität ein, was er als schädigend erlebt, um ihn von innen her zu gestalten. Durch eine »planmäßige Verschärfung der Sinne“ werden die Sinne Schrebers in erzwungenen und kontrollierten Wahrnehmungen so weit verfeinert, daß ihre Übersetzung in die Daten anderer Sinne (Synästhesie) mißlingt. Dadurch wird ein umfassender Austausch der Wahrnehmung mit den Empfindungen und Wahrnehmungsdaten gehemmt und eine Bindung zwischen sinnlicher Welt und Bedürfnis eingeschränkt. Und so verbleiben Schreber als Möglichkeiten, um der Festsetzung und der Behinderung eines räumlichen Ausweichens zu entgehen, nur Verwandlung und Flucht in spirituelle Welten, in den Wahn. Die letzte Flucht entbindet Schreber partiell von sinnlichen Erfahrungen und erlaubt und erzwingt die Konstitution eines rein privaten, privativen Kosmos. Allerdings kann seine selbsterkorene Welt die fremd gewordene so weit assimilieren, daß sich beide sehr nahe kommen. Es ist die extreme Daseinsform Schrebers zwischen Aufgescheuchtwerden und Festgesetztsein, die ihm eine besondere Form der Flucht auferlegt.

 Deshalb muß er den für ihn unsicheren Raumpunkt Erde verlassen, um sich im Weltall, wie Elias Canetti sagt, zu befestigen. Er weitet seine innere Landschaft ins Kosmische und etabliert sich gedanklich im Zentrum und Stuhl des unendlichen Raums. Aber gerade hier gibt es keinen Halt: nicht weil unendlicher Raum weder Mitte noch feste Beziehungsorte hat, sondern weil das Abstrakte und Absolute des Unendlichen Ausdruck von Verwundungen darstellt. Im Raum des Unendlichen gibt es keine Behinderung der Beweglichkeit. Man kann sich ausbreiten. Und so bewegt sich Schreber in Sonnensystemen und Galaxien und handhabt deren Distanzen und Massen, als spiele sich alles in seiner Hosentasche ab. Er weitet sich in der galaktischen Umgebung zum Medium allergrößter Attraktion und macht das Zentrum seines selbstgeschöpften Kosmos zu seiner neuen Burg. Und diese Burg ist ein Stuhl.

 Der Verstand ist die zweite große Burg, die Schreber verteidigen muß. Er bildet den Kern aller Angriffe der übersinnlichen Mächte. Als die bedrohlichsten Attacken auf seine Person erscheinen ihm die Versuche, den Verstand zu verwunden. Man setzt ihm Skorpione in den Kopf oder greift Schädel und Rückenmark an, arbeitet mit Gedankenfälschungen oder überzieht seine innere Schädelwand mit einer Gehirnmembran, um Erinnerungen an sein Ich auszulöschen. Am Ende seiner asketisch und planmäßig durchgeführten Verteidigungen weiß er, daß nicht einmal Gott ihm seinen Verstand nehmen könnte. Zur Abwehr dieser vielfältigen Vernichtungsstrategien bedient sich Schreber einer besonderen Fassung und Einfassung seines Leibs: der Ruhigstellung in der Sitzhaltung. In einer Phase seiner Erkrankung spricht er von der Eintönigkeit des Anstaltslebens. Von wenigen Spaziergängen abgesehen, „saß ich . . . während des ganzen Tages regungslos auf dem Stuhle“. Auch im Garten bleibt er vorwiegend am selben Ort sitzen. Den Hauptgrund für seine Reglosigkeit sieht er darin, daß er „eine absolute Passivität gleichsam als eine religiöse Verpflichtung betrachtete“. Weil seine inneren Stimmen von ihm „keine kleinste Bewegung!“ fordern, glaubt er sich „beständig wie eine Leiche verhalten“ zu müssen. So habe er das Opfer auf sich genommen, sich über Wochen und Monate fast aller körperlichen Bewegungen zu enthalten. Der Zweck sei die Erhaltung seines Selbst und die Erhaltung Gottes. Während er sich nach außen leichenhaft und an nichts interessiert zeigt, ist er innerlich dabei, die schwierigsten je einem Menschen gestellten Aufgaben zu lösen und „einen heiligen Kampf um die höchsten Güter der Menschheit zu kämpfen“. Die vor allem im Sitzen praktizierte Ruhigstellung führt Schreber in eine geistige Lebendigkeit. Es ist die gebärdenlose Ruhe des Sitzens, das innere Motive verbergen hilft, so dass nicht einmal Gott in Schrebers Innenseite hineinreicht. Sitzen und Verstand sind bei Schreber die sich bedingenden Pole des Wahnsystems: Der Verstand rät ihm, sich zu setzen, und das Sitzen wird Mittel, die Reste des Verstandes zu retten.

 „Ich selbst kam mir, wenn ich mit einem schwarzen Mantel und einem schwarzen Klapphut auf einem Feldstuhl im Garten saß, wie ein steinerner Gast vor, der aus längst vergangenen Zeiten in eine fremde Welt zurückgekehrt sei.“

 Der Zerstörung des Verstandes steht der Denkzwang, eine „Nötigung zu unablässigem Denken“, gegenüber. Innere Stimmen, die Schreber unablässig mit stereotypen Fragen wie „Warum nur ...?“ und Redewendungen wie „Nun will ich mich...„ konfrontieren, stellen ihn vor das Dilemma einer Zwickmühle. Ergänzt oder beantwortet er die unvollständigen Fragen nicht, dann beantworten oder ergänzen seine inneren Stimmen ihre eigenen Fragen. Wenn sie dies aber tun, verfälschen sie immer den ursprünglichen Sinn. Beides ist für Schreber gleichermaßen unerträglich, da es seine inneren Stimmen zu einem Mechanismus macht, der ihn zum Reagieren zwingt. Dieser permanente Zwang zum Denken, der ihm kein Ausruhen gestattet, hat dieselbe Funktion wie der Versuch, seinen Verstand zu zerstören, da man auch mit dem Zwang seinen Verstand mürbe machen und den Gedankenvorrat ausschöpfen möchte. Die Gegenmittel, die zur Verfügung stehen, können keine rationalen sein, denn Schreber selbst ist es, der sich mit den Mitteln einer überfeinerten Ratio paranoid verfolgt. Das anzuwendende Gegenmittel heißt Affektion. Wenn das Obertönen der inneren Stimmen in Litaneien des Klavierspielens, der Wiederholungen im Gedichtaufsagen oder des Murmelns stereotyper Sätze nicht mehr hilft, bleiben am Ende nur noch Brüllen und Schimpfen.

 Mit dem Ruhigstellen in der rationalen Leibesfassung des Sitzens pariert er die Angriffe auf seinen Verstand, mit der sprachlichen Verausgabung in der irrationalen Expressivität des Brüllens pariert er den Denkzwang. Zwei Seiten derselben Prozedur, die Schreber in der Kindheit erlebt und mit denen er als Erwachsener Verstand und Weltmitte behauptet. Zwei Positionen, die er vor allem in der Ruhigstellung des Sitzens wahrt. Es sind die beiden Seiten, die das Menschliche charakterisieren, das Organische und das Spirituelle, die in Schreber auseinanderfallen. In ihm offenbart sich erneut die Illusion des Homo sedens. Die Sedierungen im Sitzenden spalten das Potential der unterschwelligen Unruhe und lassen die destruktiven Kräfte frei. Sie entladen sich völlig ungebunden oder werden im Wahn, man besäße unendliche Macht, unterdrückt.

 Die Erziehungsmethode des Vaters ist ein Umwenden, ein Wenden des kindlichen Daseins um die Gegenwart herum, ein Verhindern des Ausagierens von Lust und Schmerz, so daß das, was Schreber später an geistigen Bildern produziert, Erinnerungen des Leibs sind, Ausgrabungen früher Eingrabungen, nicht nur Wahnwelten. Entsprechend der Erziehung des Vaters weitet sich Schreber zu einem Feld religiöser und politischer Auseinandersetzungen, und mit den Denkwürdigkeiten liegt ein Programm vor, das etwa mit folgenden Worten zu einem gottgleichen bürgerlichen Leben anleiten will: „Forme deinen Leib im gefaßten Bewegen, bediene dich deines Verstandes, traue dir nicht weniger als deinem Gott, denn als Bürger bist du ein Gottgleicher. Überhöhe deinen Leib im ruhiggestellten Sitzen.“

 Die Grenzen, auf die der Wähnende in seiner Umgebung stößt, kann er nicht als von außen kommende Begrenzung annehmen. Auch Schreber deutet die ihm von außen gesetzten Schranken um, so daß sie als selbstbestimmte Resultate eigenen Wollens erscheinen. In der Regel sind Phantasien der eigenen Allmächtigkeit im Rahmen des Sozialen unwirksam, da sie ihre Basis in zerstörten Entschlußkräften haben, in einem gehemmten Wollen, das wiederum spezielle physiologische Dispositionen bedingt. Aber wie ist es möglich, daß sich der Bürger in eine gottähnliche Position emporarbeitet und sich zugleich beschränken läßt? Warum nutzt er nicht rücksichtslos den eigenen Willen zur Macht, und unter welchen Bedingungen duldet er die eigene Beschränkung im Wollen des anderen?

 Der Krieg aller gegen alle wird nicht, wie Thomas Hobbes annimmt, durch Verträge verhindert, denn Verträge setzen bereits ein Vertragen­wollen voraus. Wer sich nicht vertragen will, braucht keine Verträge. Es bedarf spezieller Hemmungen, die den Kampf aller gegen alle hindern und die als konstitutiv für das Bürgertum anzusehen sind, Hemmungen, wie sie die fühlbare Strafe erzeugt. Auch im Schneiden des Stuhls in das Gewebe des Leibs steckt eine Bestrafung, die Hemmungen ausbildet. Aber die Wirkung des Stuhls reicht weiter als die herkömmliche Strafe, da er den Krieg aller gegen alle trotz großer Zusammenballung der Sitzenden zu verhindern scheint. Die im Sitzen ausgebildeten Hemmungen wirken lenkend so auf den Willen ein, dass sich dieser gemeinsam mit den geistigen Fertigkeiten gegen die vitalen Bedürfnisse stemmt. Den Willen brechen heißt also, die ursprünglichen Impulse in die entgegengesetzte Richtung zu lenken. Die Fähigkeit des Umwendens läßt Emotionen und Affekte in ein kontrolliertes Handeln einmünden. Über eine ausgeprägte Geistigkeit zu verfügen bedeutet nicht, daß man bereits die Affekte im Griff hat. Erst wenn das Wollen und die vernünftige Entscheidung in dieselbe Richtung arbeiten, kommt es zu Verschiebungen innerhalb der Ökonomie des Organismus, die zur Fertigkeit beitragen, legitime Ansprüche, welche die erlangte Gottähnlichkeit versprechen, wieder begrenzen zu lassen. Während geistige Potenzen geweitet werden, wird das Wollen verengt und dem geistigen Vermögen untergeordnet. Gegen den Grundsatz der Aufklärung, daß der Wille kontrollierbar sei und die Rationalität die Kontrolle ausübe, haben Nietzsche und Schopenhauer opponiert, da sich der Wille des Verstandes, nicht der Verstand des Willens bedient. Und selbst dem gehemmten Wollen bleiben Verstand und Vernunft untergeordnet. Schopenhauer nennt dies die Verneinung des Willens zum Leben, Nietzsche das Wollen zum Nichts. Da aber der gehemmte und verneinte Wille kein suspendiertes Wollen, sondern ein Wollen mit umgekehrter Richtung darstellt, muß Nietzsche recht gegeben werden.

 Im Menschen mit einem gewendeten Wollen wie bei Schreber mag der Wille stark sein, er bleibt gehemmt und seine Macht eine imaginäre: eine Macht, die sich allein auf das Zugerichtete, geistig Geformte bezieht, welches man nur nach den Regeln der Zurichtung selbst beherrschen kann. Die Grenzen zwischen Wahn und Realität, zwischen einem Bürger und dem wahnsinnigen Schreber zerfließen. Das Zugerichtete läßt sich kontrollieren, wird manipulierbar und schafft spielerisch Orientierung in einer ansonsten fremden Welt. Das Fremde bleibt unerkannt, da nicht zugerichtet. So liefern die Sinne das, was den selbstgeschaffenen Regeln gemäß und schon zuvor bekannt war. Die Erziehung zur Wendung erfolgt durch das Einüben ins Sitzen, der Stuhl macht aus den subjektiv erzeugten Regeln des Zurichtens eigener Welten objektive Regeln der Vergesellschaftung.

 In zweifacher Weise wird Schreber zum Erlöser. Zur Erlösung der Menschheit gibt er sich Gott als Opfer hin und erlöst die Menschen von der Übermacht des christlichen Gottes, um den Menschen zum Bürger wachsen zu lassen. Er glaubt, ohne individuelle Schuld zu sein, wenn er die Schuld der Gattung abbüßt, aber er lehnt sich gegen die von Gott verordnete Strafe auf. Er setzt sich wie Gott auf den Thron und wie der Bürger auf den Stuhl, um die Relation von Gott und Mensch in eine anthropozentrische Ordnung zu bringen. Schrebers Weltbild ist apokalyptisch. Die Welt muß untergehen, soll eine neue Ordnung entstehen, was Opfer und Leid bedeutet. Nur wer das Leben Schrebers kenne, könne die Qualen, die er erlitt, ermessen. Ihm seien Opfer in Gestalt von Berufsverlust, körperlichen Schmerzen, Auflösung seiner Ehe, geistigen Mattem und Schrecknissen in einem solchen Maße auferlegt worden, daß sich für ihn hieraus „das Bild eines Martyriums“ ergibt, „das... in seiner Gesamtheit nur mit dem Kreuztod Jesu Christi“ verglichen werden kann. Schrebers Kreuz ist ein Stuhl und sein Stuhl ein verstecktes Kreuz. Er wächst mit den Qualitäten des Wahnsinnigen, des messerscharfen Denkers und des in der Sitzhaltung reglos Gemachten zum ersten vollendeten Bürger der Geschichte. Schreber hält sich für unsterblich, erlebt das Kreuzopfer Christi und hat damit das Anrecht, bis in alle Ewigkeit auf dem Thron Christi zu sitzen. Kreuz und Stuhl sind als Formen des Verstecks die kleinstmöglichen räumlichen und unräumlichen Fluchtorte des Menschen, Startrampen und Landebahnen für innere Ausweitungen ins Galaktische.

 




© Hajo Eickhoff 1993

       


 



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