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aus: Erinnern Mahnen Gedenken, Begleitbuch zu Berlin Memopolis, herausgegeben von Eckhard Hammel, mit Beiträgen von Aleida Assman, Daniel Libeskind, Ben Wargin u.a., Framersheim 2016




Meta-Gedächtnis

Physik, Moral und Politik des Erinnerns

 

 

 

1. Naturgesetze – das anorganische Gedächtnis

2. Leben und Geschichte – das biologische Gedächtnis

3. Das Gedächtnis – Vergessen und Erinnern

4. Schmerz- und Muskelgedächtnis

5. Gemeinschaft und Familie – das kulturelle Gedächtnis

6. Das persönliche Gedächtnis

7. Architektur – die Gegenwart der Vergangenheit

8. Das Monument

9. Schatten des Mahnens

10. Denkmale und Brunnen

11. Monumente – Religion und Politik

 


 

 

 

1. Naturgesetze – das anorganische Gedächtnis

 

Welt ist Zeit. Was Zeit hat und kein Chaos ist, hat Geschichte. Was Austausch, Kontakt und Verbindung bedeutet. Die Folge ist eine Differenz von einem Vorher und einem Nachher. Das gilt jedoch nicht nur für das Leben, sondern generell für das Sein – für die physikalischen und chemischen Prozesse von Kosmos und irdischer Natur, denn Sein ist Veränderung in der Zeit. Wenn sich aber etwas nicht nur chaotisch und zufällig ereignet, gehört ein Gedächtnis dazu, dass die Verbindungen sichert.

 

Die Welt ist ein System unterschiedlichster Formen gegenseitiger Beeinflussung. Für die Materie und die Gesetze der Physik gilt das ebenso wie für das Leben und die Kultur. Die Physik bestimmt sich durch Wechselwirkungen, das Leben durch Austausch und die Kultur durch Kommunikation.

 

Naturgesetze sind das Gedächtnis der stofflich-energetischen Welt. Nach ihnen formen sich Kraftfelder und Wellen, Quarks und Korpuskel. Sie formen das Kleinste wie Atome und ihre Elemente und ebenso das Große wie Galaxien und Sonnen. Dieses anorganische Gedächtnis ist erkennbar in den konstanten Vorgängen der Natur.

 

Erst die entwickelten Wissenschaften vermögen zu erkennen, dass das Gedächtnis ein allgemeines Prinzip des Weltgeschehens ist. Das Allgemeine des Speicherns liegt in einer Gemeinsamkeit der Phänomene der Natur, in ihrem Verbundensein und ihrer unablässigen Wechselwirkung. Eine Art Meta-Gedächtnis des Seins.

 

Die stofflich-energetische Welt vollzieht sich in Wechselwirkungen zwischen den beiden Polen Kooperation und Widerstand. Die Elemente kooperieren im nanoskopischen Bereich der Atome wie im makroskopischen Bereich des Universums. Die Physik kennt vier Grundbindungen, auch Wechselwirkungen genannt: Gravitation als Anziehung von Massen; Starke Wechselwirkung zwischen den Nukleonen im Atomkern; Elektrostatische Wechselwirkung zwischen Atomkern und Elektron; Schwache Wechselwirkung etwa beim radioaktiven Zerfall.

 

Die Naturgesetze erweisen sich als ein präzises Gedächtnis. Sie lassen Anomalien zu, aber keine Ausnahme. Allerdings ist der gedankliche Prozess ihrer Vereinheitlichung durch den Menschen nicht abgeschlossen – vermutlich auch nicht abschließbar. Ihre Konstanz zeigen sie in ihrer Berechenbarkeit.

 

Auch in chemischen Vorgängen, den Vorläufern des Lebens, geht es um Bindungen. Wie der Zusammenhalt mehrerer Atome durch Atombindung und Ionenbindung. In chemischen Vorgängen werden Atome und Moleküle durch die Kraft der Edelgaskonfiguration verbunden, umgebaut, getrennt.

 

 

2. Leben und Geschichte -

das biologische Gedächtnis

 

Das Leben setzt das Speichern und Erinnern mit anderen Mitteln fort. Sie sind seine grundlegenden Funktionen, die die Aufmerksamkeit auf den Leib im Schmerz, die Vorsicht bei Gefahr und die Orientierung durch genetisch festgelegte oder erworbene Reaktionsweisen sichern und begünstigen.

 

Für Humberto Maturana und Francisco Varela vollzieht sich das Leben selbständig – durch Autopoiesis und Kommunikation.[1][1] Diese Idee überträgt Niklas Luhmann in seine Soziologie. Da die Systeme des Lebens und der Sozialität auf Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung angelegt sind, geht es immer um das Bewahren von Anschlussmöglichkeiten, wozu Systeme ein Gedächtnis brauchen, da sie das Nachher vom Vorher unterscheiden können müssen.[2][2]

 

Einzeller wie Amöben und Pantoffeltierchen haben ein dienliches Gedächtnis. In ihren Genen sind bereits die Baupläne des Lebens gespeichert. Ein Basisgedächtnis, das seine konkrete Gestalt in der organischen Struktur der DNA im Zellkern hat. Sie ist das Potential, das das Erbgut bewahrt und weiterentwickelt. Ihr Gedächtnis reicht so weit, dass sich alle aktuell lebenden Zellen aus den ersten Zellen herleiten. Eine lange Geschichte von der Gegenwart bis zurück zum Anfang des Lebens. Einzeller sind in der Lage, sich von anderen Einzellern zu unterscheiden – als hätten sie ein Bewusstsein –, etwa wenn eine Amöbe eine andere erkennt, verfolgt und sich einverleibt.

 

Gene können sich auch entwickeln, so dass Selektion und Variation stattfinden. Die Anwesenheit eines Gens bedeutet aber nicht, dass es auch wirksam wird, denn es ist eingebunden in einen Austauschvorgang mit der Zellmembran und mit der Umgebung der Zelle, die ihrerseits ein Gen ein- und ausschalten können.

 

Jede Zelle ist ein eigenes, lebensfähiges Wesen. Sie strebt nach einer Umgebung, die ihr Überleben sichert und giftige Umgebungen und gefahrvolle Situationen meidet.[3][3] Sie lernt durch den Austausch mit ihrer Umgebung „zelluläre Erinnerungen zu speichern und diese an ihre Nachkommen weiterzugeben.“[4][4] Sie nimmt ständig Reize aus ihrer Umgebung auf und kann sich für ein angemessenes Verhalten entscheiden. Eine Immunzelle kann sich veranlassen, ein Masern-Antikörper-Protein herzustellen. Ist eines dieser Antikörper-Proteine dem angreifenden Masernvirus ähnlich, wird die Zelle aktiviert, wodurch sie in einem Ähnlichkeits-Reifung oder affinity maturation genannten Prozess in mehreren Durchläufen das Antikörper-Protein immer mehr verfeinert, bis ein genaues Gegenstück zum Masernvirus entsteht. Dieses entwickelte Antiköper-Gen wird dann von der Zelle hundertfach kopiert und die Immunzelle bindet sich mit dem Antikörper an das Virus und markiert es für die Zerstörung. Diese Zellen sind auch in der Lage, die genetische Erneuerung als Erinnerung zu bewahren, indem sie die neu entwickelten Informationen an all ihre Nachkommen weitergeben.

 

Ohne Erinnerung gibt es kein Leben. In der eigentlichen Bedeutung ist Leben ein unablässiges Abrufen des Gedächtnisses, da sich Leben ständig im Modus des Erinnerns ereignet – bewusst wie unbewusst. Andererseits kann nur das erlebt, unmittelbar erfahren werden, was gerade nicht erinnert wird. Also nur das, was gegenwärtig ist. Aufgenommen durch die Sinne. Doch das unmittelbare Erleben ist nicht nur durch Erinnerungen vorbereitet, sondern auch wesentlich beeinflusst und gefärbt. So ist die gelebte Gegenwart auch immer durch Erinnerungen mitbestimmt.

 

Ohne Erinnerung wäre der Mensch in der Welt verloren, da sie ihm ohne Bezug auf Vergangenes nicht erkennbar wäre. Das Gedächtnis und die organische Möglichkeit des Speicherns ist allerdings kein hinreichender Grund für eine Erinnerung. Der hinreichende Grund dafür ist der Austausch, ohne den es weder ein Gedächtnis noch Erinnerungen gäbe, denn Erleben, Abspeichern und Erinnern sind an Kontakt und Verbundenheit geknüpft.

 

... 



Literatur

 

Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis, München 2014

Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2007

Marc Augé, Die Formen des Vergessens, Berlin 2013

Hajo Eickhoff, Die Poesie der Schatten. Möbelskulpturen von Timm Ulrichs, in: Timm Ulrichs macht mobil. Möbel-Skulpturen und Installationen, S. Freiburg 1999, S. 5-19

Hajo Eickhoff, Drunter und Drüber, in: Timm Ulrichs, Gehäuse für Denkmale und Brunnen, Freiburg 2000, ohne Seitenzahlen.

Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2011

Daniele Giglioli, Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt, Berlin 2016

Kristian Gundersen, zitiert nach http://www.deutschlandfunk.de/das-gedaechtnis-der-muskeln.676.de.html?dram:article_id=27682Bruce

H. Lipton, Intelligente Zellen. Wie Erfahrungen unsere Gene steuern, Burgrain 2007

Tanja Krämer, unter https://www.dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/wie-erlebnisse-zu-erfahrungen-werden-2013-das-gedaechtnis/print

Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/ M. 1997

Humberto Maturana/ Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis, München 1987

Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2011

 


 
[1][1] Vgl. Humberto Maturana/ Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis, München 1987, S. 55 und 210

[2][2] Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1997, S. 84 und 100

[3][3] Vgl. Bruce H. Lipton, S. 37

[4][4] Bruce H. Lipton, S. 37f

[5][5] Vgl. Astrid Erll, S. 7

[6][6] Vgl. Tanja Krämer, unter https://www.dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/wie-erlebnisse-zu-erfahrungen-werden-2013-das-gedaechtnis/print 

[7][7] Kristian Gundersen, zitiert nach http://www.deutschlandfunk.de/das-gedaechtnis-der-muskeln.676.de.html?dram:article_id=27682

[8][8] Vgl. Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis, S. 13 und 68

[9][9] Jan Assmann, 2007, S. 20

[10][10] Vgl. Harald Welzer, S. 10

[11][11] Zitiert nach Astrid Erll, S. 96

[12][12] Vgl. Astrid Erll, S. 111

[13][13] Vgl. Harald Welzer, S. 119

[14][14] Vgl. Jan Assmann, S. 2f

[15][15] Hajo Eickhoff, in: Timm Ulrichs macht mobil, S. 10

[16][16] Vgl. Daniele Giglioli, 2016, S. 16f

[17][17] Daniele Giglioli, 2016, S. 17

[18][18] Vgl. Hajo Eickhoff, 2000, 2. Seite des Textes





© Hajo Eickhoff 2016




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