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Räume der Zeit

Zeitstrukturen im Werk von Beate Spitzmüller




Phänomen Zeit


Zeit erschafft die Welt. So wie der Mensch sie kennt. Alles ist in Zeit getaucht. Zeit ist der Faden, der die Phänomene zu einer Einheit zusammenwebt – zur Welt. Was immer Menschen wahrnehmen, sie können es nur zeitlich fassen.

Ohne Zeit sind nur Neugeborene. Erst nach drei Monaten synchronisieren sie sich mit der Sonne und dem Rhythmus von Tag und Nacht.

Die Zeit des Menschen beginnt mit der partiellen Überwindung der Instinkte: der Entkoppelung von Reiz und Reaktion. Damit bietet sich die Möglichkeit, die Reaktion auf Reize und Impulse zu verzögern. Mit der Verzögerung entsteht ein Zeitspalt, durch den auf einen Reiz nicht automatisch die gleiche Reaktion folgen muss, woraus sich Selbstbewusstsein und Erkenntnis, Vertrauen und bewusstes Handeln entwickeln. Das ist eine Basis der Zeit des Menschen.

Eine zweite Basis ist die Erinnerung. Ohne Erinnerung keine Zeit, denn erinnert wird immer ein vergangenes Ereignis, sodass eine Zeitdifferenz zu dem Augenblick besteht, in dem etwas erinnert wird.

Der Mensch nimmt innere Regungen und die äußere Welt wahr. Die äußere Wahrnehmung ist raumgebunden. Sie vollzieht sich durch die Sinnesorgane und ist ein Maß für Bewegung, Veränderung und Entwicklung, wie sie sich in den Vorgängen der Natur und der beständigen Veränderung der Umwelt durch den Menschen ereignen. Dagegen ist die innere Wahrnehmung zeitgebunden, bei der der Mensch Herzschlag und Angst, Freude, Hoffnung und der Erinnerung gewahr wird.

Eine besondere Zeit ist die Gegenwart. Sie ist der bewusst erlebte Augenblick – das Jetzt. Dabei wandeln sich unablässig Zukunft in Gegenwart und Gegenwart in Vergangenheit.

Gegenwart wird im Gedächtnis gespeichert, geordnet und kann erinnert werden, sodass sich der Mensch in der Erinnerung an Vergangenes in der Gegenwart orientieren kann. Doch leben kann er nur in der Gegenwart: nicht in der Vergangenheit, denn Vergangenheit ist pure Erinnerung. Leben kann er auch nicht in der Zukunft, denn wenn sie da ist, ist sie bereits Gegenwart. Zukunft spielt sich nur im Kopf ab – als Phantasie, Planung, Perspektive.

Die persönliche Gegenwart ist die Zeit der sinnlichen Anwesenheit. Aktualität und Lebendigkeit, Unmittelbarkeit und Fülle der Sinne. Der knapp bemessene Zeitpunkt zwischen Zukunft und Vergangenheit. Gegenwart ist eine Zeiteinheit mit einer Dauer von etwa drei Sekunden. Das ist die Dauer eines Atemzugs ebenso wie die Dauer des freien Blicks zwischen zwei Wimpernschlägen – nicht grundlos Augenblick genannt. Damit hat Gegenwart einen Spielraum, denn zu ihr gehören unmittelbar vorangegangene und unmittelbar nachfolgende Sinneseindrücke, sowie Gefühle, die sich mit den Sinneseindrücken einstellen.

Die unpersönliche Gegenwart ist die Zeit der Epoche. Die Zeit in der wir leben. Wie andere Menschen in der Epoche des Barock, der Industrialisierung oder der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts lebten. Nicht nur der einzelne Mensch hat seine Zeit, auch eine Generation.

Zeit ist unanschaulich. Der Mensch kann sie nur mittelbar wahrnehmen. Er kann ihr aber eine Struktur geben und sie in einem anderen Medium, im Räumlich-Stofflichen wahrnehmen. Das ist die künstlerische Absicht von Beate Spitzmüller. Im Herstellen textiler Werke, im Rhythmus ihrer Hände, im Strukturieren von Erinnerungsorten oder im Wecken von Erinnerungen gibt sie der Zeit ein Gefäß und damit Anschaulichkeit. Eine Grammatik, die bemerkenswerterweise eine Ordnung des Raumes ist.

Mit Fotoapparat und Zeichenstift, mit Nähnadel und Schere, mit Stadtplan und Konzept geht sie auf die Zeit zu, die sie mit Leib und Seele und mit den Sinnen sondiert. Die unterschiedlichen Formen der Zeit macht sie in Textilien und Fotografien, auf Papier, in der Natur und im Film anschaulich. Sie untersucht das Zeitverständnis des Menschen, das von der Kultur und der Person, von der Epoche und dem Lebensalter abhängt. Sie verwandelt die Zeit, die in Orten und Ereignissen, in Erinnerungen und Prozessen verborgen liegt, in Werke der Kunst.

 

Zeit schichten – Textur schaffen


In Erzählungen – den Mythen – spinnen Frauen Texte. Texturen. Näherinnen und Weberinnen wie Ariadne, die Parzen, die Nornen und Nereiden. Sie spinnen mythische Fäden zu Geweben, die sie zu Gewändern verarbeiten, sodass sich reale Texturen und mythische Stoffe zu einem Text, dem Text des Lebens vereinen. Als Schicksalswesen bestimmen sie über Leben und Tod.

In der Arbeit „Verwobene Welten“ von 2013 hat Beate Spitzmüller einen Tisch gedeckt. Eine textile Decke. Zusammengenäht aus vielerlei Stoffresten und belegt mit unterschiedlichen Objekten wie Fotografien, Knöpfen, Revolvern und Schmuck. In der Herstellung des Textilen – die eine Geschichte hat – wird eine andere Geschichte eingearbeitet: die Geschichte eines Hauses in Basel und die Geschichte der Familie der Hausbesitzer über drei Generationen – rekonstruiert aus dem Ort und aus Interviews mit Nachbarn.

Die Basis – der Tisch – ist eine ordnende Kraft. Die Decke und die textile Struktur bilden den Rahmen, in dem der Text, die Erzählung, durch die Art der Objekte und ihrer Positionierung erzählt wird.

Die Geschichte von Haus und Familie wird im Herstellungsprozess von „Verwobene Welten“, durch die Erinnerung von Hausbewohnern und Nachbarn zu einer vielfältigen Struktur verwoben. Zu einem komplexen Gewebe der Zeit, das in einer Spanne von einigen Jahrzehnten persönliche, historische und soziale Beziehungen herstellt zwischen Nachbarn, wechselnden Hausbesitzern und der Künstlerin selbst, indem sie die Zeit durch die Ideen und Erinnerungen unterschiedlicher Personen an einem einzigen Ort untersucht, strukturiert und sichtbar macht.

 

Zeit fixieren – Ereignisorte

                                                                        Besondere Orte prägen sich dem Menschen ein. Es mag ihre Schönheit sein, ein mit einem Ort verbundener Duft, ein einschneidendes Erlebnis oder eine wunderbare Begegnung. Das Gedächtnis versammelt die Elemente zu einem unvergesslichen, einprägsamen Ort, dem lebenslangen Begleiter des Menschen. Die unterschiedlichen, im Leben eingeprägten Orte, liegen im Gedächtnis als gewichtete Rangfolge vor und bilden ein Muster der individuellen räumlichen Welt.

In „Zeitsilhouetten: The individual memory of the places“ von 2011 beschäftigt sich Beate Spitzmüller mit den Erinnerungen, die Menschen an besondere Orte ihrer Stadt haben. Sie hat Stadtbewohner nach bedeutungsvollen Orten – Straßen, Institutionen, Plätzen und Häusern – befragt. Dann hat sie diese Orte in einen Stadtplan eingezeichnet, Fotografien dieser Orte um den Stadtplan herum angeordnet und die Befragten im Profil wiedergegeben: vier unterschiedliche Elemente, die die Erinnerungen einer Person charakterisieren: Person (Silhouette des Kopfes), Erinnerung (Ortswahl), Stadt (Stadtplan Böblingen), Orte (Markierungen auf dem Stadtplan).

Die textile Decke erzählt von unterschiedlichen Personen und ihren Bezug zu einem einzigen Ort. Dagegen erzählt „Zeitsilhouetten“ von jeweils einer einzigen Person und deren Bezug zu unterschiedlichen Orten: Erzählt wird von Erinnerungen eines Menschen an bedeutsame Erlebnisse und Begebenheiten, die sich an besonderen Orten einer Stadt manifestiert haben.


Zeit graben – taktil und taktvoll zeichnen


Musik ist aus dem Erntedank hervorgegangen. Der vorsprachliche Dank wird begleitet von Tanz und rhythmischen Stockschlägen, die den Takt geben. Musik ist eine zeitliche Folge von Tönen, die im Takt und Rhythmus einen Rahmen erhalten. Eingängig und einprägsam wird ein Musikstück durch Wiederholung. Da die Zeit ein wesentliches Fundament der Musik ist, hat George Antheil gewagt, Zeit als Leinwand der Musik zu definieren.

Wenn der Taktstock zum Bleistift wird und im Takt Papier berührt, entstehen neben Geräuschen Zeichenwerke. In der einfachen Weise von „100 Minuten Zeichnung“ oder von „Ten Minutes & More“ erarbeitet Beate Spitzmüller Serien und Reihen und geht dabei bisweilen in den leiblichen Schmerz hinein, etwa wenn sie hundert Minuten lang unablässig mit zwei Bleistiften zwei bis drei Mal pro Sekunde auf Papier schlägt. Wie sie das Material der Zeit unterwirft, unterwirft sie auch ihren Körper der Zeit: So spürt sie der Zeit in der Belastung und im Schmerz nach und erlebt Zeit leiblich. Seit 2006 hat sie Tausende solcher Zeichnungen geschaffen. Auf DIN A4 Blattbögen werden Striche mit wechselnder Taktgeschwindigkeit und in unterschiedlichen Richtungen gezogen: parallel, gegeneinander, im Kreis, schräg zueinander. Entstanden sind phantastische, schöne und eigenwillige Formen – Zeitfiguren.

In der Arbeit „24 Hours“ aus dem Jahr 2008 wandelt sie die Methode ab, indem sie mit stärkerem Druck zeichnet: an 24 Tagen bringt sie zur selben Tageszeit eine Stunde lang Bleistiftstriche auf einen Zeichenblock und arbeitet, ohne es geplant zu haben, in die Tiefe. Hinein in den Block. Nach Tagen bricht die erste Seite. Im weiteren Verlauf bricht Seite um Seite, bis am Ende eine Öffnung entsteht. Ein Graben und Krater. Ein Raum und doch ein Bild der Zeit. Ein Zeitkrater. Auch ein Bild der Musik. Begonnen als Zeichnung auf einer Fläche endet sie als dreidimensionales, räumliches Gebilde. Sichtbar gemachte Zeit als Skulptur.

 

Zeit initiieren – säen, ordnen, pflegen


Wachsen ist ein lebendiger Prozess und ein gerichtetes Fortschreiten in der Zeit. Wenn die Lebewesen Pflanze, Tier und Mensch wachsen, entfalten sie ihre Anlagen. Sie entwickeln ihr Innen, das im Außen sichtbar wird, und durchlaufen unter den Einflüssen der Umwelt organisch eine Metamorphose bis zur Reife und bis zum Ableben. Ein Wandel in der Zeit, in der sie sich ausdehnen und Raum erobern.

In der Arbeit „Look@me“ von 2007 spürt Beate Spitzmüller der Zeit nach, indem sie Wachstum initiiert. Sie gibt einer vorgegebenen Form – drei Plastikstühlen – eine neue Gestalt, indem sie wachsende Ranken, die sie pflanzt, wässert und beschneidet, mit künstlichen Ranken verbindet, und die Plastikstühle zu Pflanzenskulpturen umgestalten lässt. Sie verbindet Natur mit Kultur und Pflanzen mit Plastikranken zu einer sich in der Zeit verändernden Natur-Kultur-Plastik. So kann sie den einmal initiierten natürlichen Prozess des Wachsens kontrollieren und einem natürlichen Vorgang eine kulturelle Form geben.


Zeit verarbeiten – kreativ sein


In der Kindheit sind die Förderung von Kreativität und die Ausbildung des Gedächtnisses wichtig für Offenheit und Selbständigkeit des Erwachsenen. Ein sozialer und zugleich künstlerischer Grund für Beate Spitzmüller, mit Kindern in der Schule zu arbeiten.

Jeder Mensch hat eine persönliche Weise, Zeit wahrzunehmen und im Gedächtnis zu bewahren. Eine Weise, die von der Vielfalt und Intensität gemachter Erfahrungen abhängt. Zugleich ist die Zeitwahrnehmung ein soziales Phänomen, bestimmt durch Kommunikation und Aufmerksamkeit, durch Lebensalter und gesellschaftlichen Status.

Da sich im Alter das Erinnerungsvermögen abschwächt, sagt Joseph Brodsky: „Solange ich ein Gedächtnis habe, bin ich eine Schatzkammer.“ Um diese Schatzkammer zugänglich zu halten, arbeitet Beate Spitzmüller auch mit Menschen in hohem Alter, die sie zur kreativen Beschäftigung wie Malen und Zeichnen anregt und ermutigt, da jede kreative Tätigkeit ein Arbeiten an der Zeit ist, um Erinnerung, gegenwärtiges Leben und Lebensentwurf in eine Spur zu bringen. Auch in dieser Arbeit verfolgt Beate Spitzmüller die Spuren der Zeit und zeigt ihren Zeitlehrlingen die Möglichkeit, mit den Mitteln der Kunst an der eigenen Zeit – der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – zu arbeiten, sich in ihr zu verlieren und sich durch Freude, Aktivität und Würde die Zukunft offen zu halten.

 

Zeit als Gegenstand der Kunst


Die Rotation der Erde um sich, ihre Drehung um die Sonne und die Schräge ihrer Rotations-Achse zur Umlaufbahn um die Sonne erzeugen Maße für die äußere Zeit des Menschen. Diese Konstellation bestimmt die Jahreszeiten, ordnet das persönliche Leben, strukturiert die Entwicklung von Gemeinschaften nach Epochen, bestimmt Kalender und gibt der sinnlich wahrnehmbaren – äußerlichen – Welt eine Zeitordnung.

Unter diesem Zeit-Regime steht alles Leben auf der Erde. Dem Menschen –an diese äußere Zeit gebunden – ist auch die Wahrnehmung eines inneren, eines persönlichen Erlebens und Zeiterlebens gegeben, sodass Zeit der umfassende Hintergrund menschlichen Lebens ist.

Indem Beate Spitzmüller nach der Zeit fragt und versucht, sie anschaulich zu machen, rührt sie an grundlegende Fragen der menschlichen Existenz. Denn der Mensch bleibt trotz beständiger innerer und äußerer Veränderungen sein Leben lang derselbe. Das ist das Wunder des Menschen und seiner unverbrüchlichen Identität. Im Bewahren der Identität durch die Lebensalter hindurch spielen Gedächtnis und Erinnerung eine wesentliche Rolle, da sich die Identität eines Menschen aus den erinnerten Geschichten zusammensetzt, die er über sich erzählt hat, noch erzählt und die andere von ihm wiedererzählen: wer er ist, was er macht und was er will. Die Identität des Individuums ergibt sich aus den in der Gegenwart erinnerten Fragmenten seiner Geschichte.

Jedes Kalenderdatum, jeder Ort, jedes Ereignis und jede Erinnerung haben eine Geschichte. Jeder Tag ist getränkt mit Weltgeschichte sowie mit der persönlichen Geschichte des einzelnen Menschen. Beate Spitzmüller verwandelt Geschichte und Geschichten, deren Kern Zeit ist, in Anschauliches wie Zeichnungen, Installationen, Fotografien, Prozesse und Filme, und gibt der ungreifbaren und unanschaulichen Zeit visuelle Formen – Zeugen für das Phänomen Zeit.

 


© Hajo Eickhoff 2015







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